pro: Herr Kissler, Sie befassen sich in Ihrem Buch „Der aufgeklärte Gott“ insbesondere mit der Glaubenskritik der „neuen Atheisten“, die gegen die Religion zu Felde ziehen und behaupten: Der Glaube sei blind, Wissenschaft aber beruhe auf Belegen. Was halten Sie von dieser Meinung?
Alexander Kissler: Mein Ziel ist es, durch eine Analyse des Neoatheismus, der selbst religionsförmig auftritt, die Wahrheit eines umstrittenen Satzes darzulegen: Nur der Glaube kann die Vernunft zu sich selbst befreien. Ich erhebe Einspruch gegen die Anmaßung, die neoatheistische Elite habe das Deutungsmonopol für unsere Begriffe von Vernunft und Wissenschaft. Leider ist diese neoatheistische Anmaßung auf dem besten Weg, Allgemeingut zu werden. Sie beruht jedoch auf Verkürzungen, die sowohl den Vernunft- als auch den Wissenschaftsbegriff gefährlich beschneiden. Zunächst einmal lässt sich die Menge des Wissbaren nicht reduzieren auf die Erkenntnisse der experimentierenden Naturwissenschaftler, aus deren Reihen die Protagonisten dieser Bewegung stammen. Vernünftig ist nicht nur das, was im Experiment wiederholbar ist, was also gemessen, gezählt, verwertet werden kann. Mehr noch: Es ist geradezu unvernünftig zu glauben, die Welt sei vollständig begreifbar unter Ausblendung all dessen, was weder im Experiment bestätigt noch im Dreisatz errechnet werden kann, unter Verzicht also auch auf den Wahrheitsgehalt von Liebe, Treue, Opfer. Umgekehrt hat der christliche Glaube keinen Grund, sich Blindheit vorwerfen zu lassen, setzt er doch bei der steten kritischen und selbstkritischen Lektüre der ganzen Welt und des ganzen Menschen an – während eine zur Ideologie erhobene Naturwissenschaft ihre Detailergebnisse, die immer auch abhängig sind von der jeweiligen Versuchsanordnung, missversteht als Generalschlüssel zur Welt. Der Mensch aber sprengt jedes Experiment.
pro: Wichtiges Ziel der Atheisten ist, jegliche Hinweise, die der Evolutionstheorie widersprechen könnten, auszuräumen. Die Welt, in der wir leben, sehe zwar so aus, als sei sie gezielt gestaltet, aber das sei eine Täuschung, so die Auffassung von Dawkins und Co. Die Komplexität des Lebens beruhe auf natürlicher Selektion. Lässt sich die These halten?
Kissler: Ich empfehle in der Evolutionsdebatte mehr Gelassenheit. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es verschiedene Erzählungen gibt vom Anbeginn der Welt, manche davon sind mehr, manche weniger plausibel. In keinem Fall aber wird sich je auf rein naturwissenschaftliche Weise die Frage beantworten lassen, woher die uranfängliche Bewegung allen Lebens kam, wie die Welt sozusagen zur Welt kam. Ich halte es da mit den Wissenschaftstheoretikern Janich und Weingarten, die einmal geschrieben haben: „Ein Kriterium wie das berühmte ‚survival of the fittest‘ kann keine Hypothese oder gar Beschreibung für einen Naturzusammenhang oder gar ein Naturgesetz sein, weil es nämlich der ganzen bio-wissenschaftlichen Naturgeschichtsschreibung als erkenntnisleitendes Prinzip zugrunde gelegt wird.“
pro: An allem Elend in dieser Welt wird außerdem indirekt Gott – oder vielmehr den Gläubigen – die Schuld gegeben. Eine Welt ohne Religion wäre eine friedliche Religion, und noch nie seien Kriege im Namen des Atheismus geführt worden – auch so eine These der Atheisten.
Kissler: Diese Auffassung ist ebenso plump wie falsch. Wie immer man auch rechnen mag: Die Abermillionen Opfer, die die Kriege des 20. Jahrhunderts gefordert haben, ließen ihr Leben gewiss nicht im Namen eines monotheistischen Glaubens. Mao und Pol Pot, Stalin und Hitler mögen ihrem jeweiligen Regime einen religionsförmigen Anstrich gegeben haben; Gottgläubige waren sie nicht. Zudem übersieht die These von der Friedfertigkeit einer Welt ohne Religion, dass es zwar Glaubenskriege gab und gibt, dass es aber auch unter den vollendet Gottlosen gewiss noch genügend Neid gäbe und Zwietracht, Eitelkeit und Machtgier, um damit stetig neue Kriege zu entfesseln. Und übrigens: Kein Experiment dieser Erde könnte eine prinzipielle Güte des Menschen belegen und deren Korrumpierbarkeit allein durch Religion. Hier reden die Verteidiger des Experiments sehr spekulativ.
pro: Die Bibel wird von den Atheisten als eine literarische Erfindung bezeichnet, nichts weiter – wodurch dem christlichen Glauben die Grundlage entzogen werden soll. Wie sehen Sie das?
Kissler: Auch hier gilt mein Aufruf zu mehr Gelassenheit. Warum soll ein Mitglied einer zweitausend Jahre alten, doch wohl im besten Sinne gefestigten Glaubensgemeinschaft sich von derlei Anwürfen beunruhigen lassen? Wer die neoatheistischen Schriften liest, wird entdecken, dass dort auf einem sehr unreifen Niveau theologisiert wird. Man stellt verschiedene Bibelzitate – vor allem aus dem Alten Testament – zusammen, um daraus das Bild einer blutrünstigen Gemeinschaft zu komponieren. Man übersieht, dass es für jede ambivalente Stelle deren zehn und mehr gibt, die von der Pflicht zum Frieden und zur Liebe reden. Außerdem wird der Charakter des Christentums als einer Traditions- und Geschichtsgemeinschaft, einer Gemeinschaft, die sich fortwährend ihre eigene Geschichte und die Geschichte ihres Gründers erzählt, negiert. Hier bleibt vom Christentum wenig mehr als das Zerrbild einer skrupellosen Meute, die in jedem Anders- oder Ungläubigen den Todfeind sieht. Darum, so meine ich, liegt im anschwellenden Triumphgeheul der Neoatheisten eine Chance: Christen könnten neu lernen, wie man sich die eigene Geschichte schöpferisch aneignet. Das scheint mir auch notwendig, denn der atheistische Umbau der Gesellschaft, der Politik und der Wissenschaft ist in vollem Gange.
Alexander Kissler, „Der aufgeklärte Gott. Wie die Religion zur Vernunft kam“
Pattloch Verlag, 2008
Weitere Informationen zu Buch und Autor im Internet: www.alexander-kissler.de