Ziemlich genau zehn Jahre ist es her, am 6. November 2015, da verbot der Deutsche Bundestag die sogenannte „geschäftsmäßige Sterbehilfe“. Ein Gesetz, das unter Federführung von Michael Brand (CDU) und Kerstin Griese (SPD) entstanden war, verabschiedeten die 602 Parlamentarier mit 360 Stimmen. Stünden die Dinge noch wie damals, dann gäbe es heute keine Vereine wie die „Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben“ (DGHS) oder „Dignitas“. Im Gegenteil, wer wiederholt und organisiert Sterbehilfe anbietet, könnte dafür sogar ins Gefängnis kommen.
Im November des Jahres 2025, macht hingegen der Fall der Kessler-Zwillinge Schlagzeilen. Die beiden Entertainerinnen nahmen sich offenbar gemeinsam und mithilfe der DGHS im Alter von 89 Jahren das Leben. Die Reaktionen darauf sind vielschichtig. Der Ton der Nachrichten reicht von heroisierend bis warnend. Lebensschützer mahnen die Verherrlichung eines tragischen Todes an, soziale Träger warnen vor Nachahmungseffekten und einige Medien nutzen die aktuellen Ereignisse, um die eigentlich philosophische, aber in diesen Zeiten offenbar auch ganz praktische Frage zu diskutieren: Wie wollen wir sterben?
Sterbehilfe ist verfügbar
Suizidbeihilfe, das wird dieser Tage deutlich, ist in Deutschland nicht nur legal, sie ist auch verfügbar. Das liegt vor allem an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2020. Am 26. Februar erklärte das höchste juristische Gremium das Gesetz von 2015 für verfassungswidrig und führte ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ als Begründung an. Seitdem herrscht, gelinge gesagt, Chaos im Rechtsstaat.
Sterbehilfevereine agieren einerseits und wirken in die Öffentlichkeit, zugleich mahnen Mediziner und Fachleute immer wieder Rechtssicherheit für Ärzte an und warnen vor vorschnellen Suiziden, etwa bei psychisch Kranken. Ärzte werden wegen Suizidbeihilfe verurteilt, zugleich urteilte etwa das Bundesverwaltungsgericht 2023, dass unheilbar Kranke keinen Anspruch darauf haben, vom Staat ein tödliches Medikament zu erhalten. Denn es gebe „zumutbare Möglichkeiten“, sich anders beim Suizid helfen zu lassen. Evangelische Einrichtungen hadern: Soll es Suizidbeihilfe in unseren Häusern geben oder nicht? Im vergangenen Jahr erklärten etwa „Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel“, Sterbehilfe in den eigenen Häusern zu erlauben und einen Leitfaden für den Umgang damit zu erarbeiten. Und bei allem steigen die Suizidzahlen.
Abhilfe sollte ein neues Gesetz schaffen, für das der Bundestag 2023 Anlauf nahm – doch beide Entwürfe fielen durch, auch wegen des Widerstands der AfD-Fraktion, die beide ablehnte. Seitdem, so heißt es, arbeiten Parlamentarier wieder fleißig an einem neuen Gesetz. Aus dem Büro des SPD-Politikers Lars Castellucci etwa ist auf Nachfrage zu hören, „eine neu konstituierte überfraktionelle Gruppe“ wolle die „Neuregelung des Assistierten Suizids“, inklusive „wirksamer Schutzmechanismen“. Wann aber eine „tragfähige, mehrheitsfähige Lösung“ vorgelegt werden könne, sei unklar.
Der seltsame Fall des Florian Willet
Derweil wird die Kritik an Sterbehilfevereinen wieder lauter – nicht nur wegen des prominenten Falls der Kessler-Zwillinge. Lang und breit berichtet etwa der „Spiegel“ über den Fall von Florian Willet. Am 5. Mai dieses Jahres nahm er sich unter Zuhilfenahme der DGHS das Leben. Der in einem Brief verkündete Grund laut „Spiegel“: „Lebenssattheit“.
Schon kurz danach kamen öffentliche Zweifel auf, ob die Suizidbeihilfe in diesem Fall ethisch vertretbar gewesen sei. Willet könnte unter Depressionen gelitten haben, er könnte auch Angst vor rechtlichen Schritten gegen ihn gehabt haben, denn zynischerweise war Willet nicht nur ein Verfechter der Sterbehilfe, er erfand auch die weltweit erste Suizidkapsel, mit der man sich selbst das Leben nehmen kann, und half dabei, sie einzusetzen. Auch die Kürze der Zeit zwischen Benennen seines eigenen Suizidwunsches und der Durchführung steht in der Kritik, sie betrug offenbar nur einige Wochen.
Der „Spiegel“ schreibt kritisch von „Regelungslücken, Graubereichen und einer Menge offener Fragen. Zum Beispiel: Wie lässt sich die Motivation einer Person überprüfen, die diesen Weg gehen will? Und haben Sterbehilfeorganisationen ein Interesse daran, das zu klären?“
Die Debatte um Suizidbeihilfe ist einmal mehr in vollem Gange. Ein Gesetz steht aus. Derweil arbeiten Sterbehilfevereine ungehindert. Allein die DGHS hat nach eigenen Angaben 50.000 Mitglieder. Im Jahr 2024 habe die Organisation 623 Suizide begleitet. Das sind 200 mehr als noch zwei Jahre davor.
Hilfe bei Suizidgedanken
Denken Sie darüber nach, sich das Leben zu nehmen? Holen Sie sich Hilfe, zum Beispiel bei der Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.