„Antisemitismus hat längst begonnen“

Antisemitismus ist in der Bundesrepublik zur Normalität geworden, meint der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dieter Graumann. In einem Gastbeitrag für die "Süddeutsche Zeitung" kritisiert er judenfeindliche Aktionen der "Linken" – diese findet nach wie vor kein klares Nein zum Antisemitismus.

Von PRO

"Wenn Israel generell dämonisiert wird, beispielsweise durch Nazi-Vergleiche, wenn seine Existenz delegitimiert wird – dann hat der Antisemitismus längst begonnen", schreibt Graumann. Tendenzen wie diese sieht er vor allem in der "Linken". Dort werde zwar immer auf die antifaschistische Tradition der Partei verwiesen, "doch das darf kein Freibrief für Äußerungen und Taten sein, die mehr als nur ein klein wenig antisemitische Züge aufweisen – und die auch ihren unrühmlichen Platz in der Geschichte der Partei haben". So habe die DDR systematisch gegen Israel gekämpft – und allzu oft die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus ausgeblendet.

Eine 70 Jahre alte Erinnerung

Graumann verweist in seinem Beitrag auf Aktionen einzelner Linker: Die Unterstützung der Gaza-Hilfsflottille, den Auftritt der Abgeordneten Inge Höger mit einem Schal, der die Region um Israel ohne den jüdischen Staat zeigt, das demonstrative Sitzenbleiben beim Besuch des israelischen Präsidenten Schimon Peres zum Holocaust-Gedenktag. Nicht zuletzt weist er darauf hin, dass sich Linke-Politiker auch für den Boykott israelischer Waren ausgesprochen hätten: "Man muss sich die Szene nur einmal vor Augen führen: Was würden die antifaschistischen Vorfahren der Linken sagen, wenn ihre Nachfahren vor Einkaufsläden stünden mit Schildern: ‚Kauft keine Produkte aus Israel?‘ Man möge uns Juden verzeihen, dass diese Vorstellung eine schmerzliche, 70 Jahre alte Erinnerung in unser Gedächtnis ruft."

Jene "Friedensaktivisten", die obsessiv einseitig gegen Israel agitierten, schwiegen hingegen, wenn es um die Steinigung von Frauen, die Ermordung von Homosexuellen und die Folterung von Andersdenkenden gehe. "Und ja, im von der Hamas beherrschten Gaza werden Menschen ermordet, weil sie anderer Meinung sind als die Mächtigen dort. Aber wenn Israel sein Recht auf Verteidigung wahrnimmt, um seine Bevölkerung zu schützen, dann ist der Aufschrei groß, die Empörung steigt ins Unermessliche", schreibt Graumann. Die Kritiker vergäßen dabei, dass Israel täglich für die Freiheit eintrete, die radikale Kräfte nicht nur dem jüdischen Staat, sondern auch den Deutschen rauben wollten. "Selbstverständlich ist Israel-Kritik keineswegs per se antisemitisch", erklärt Graumann. "Nirgendwo wird die israelische Politik leidenschaftlicher und härter kritisiert als in Israel selbst, wo es eine freie Presse gibt und unabhängige Gerichte. Aber Israel für das Unglück der Welt verantwortlich zu machen – das ist absurd."

Zerreißprobe für die "Linke"

Linke-Chef Klaus Ernst hat Graumann laut Deutscher Presse-Agentur (dpa) am Dienstag eine Diffamierung seiner Partei vorgeworfen. Er rief ihn in den Zeitungen der WAZ-Mediengruppe dazu auf, "die Niederungen der Parteipolitik schnell wieder zu verlassen". Die Kritik sei "in Form und Inhalt vollkommen unangemessen". Graumann schade seinem Anliegen, "wenn er den Antisemitismusvorwurf inflationiert, ohne ihn klar zu definieren". Die Linke sei die einzige Partei, die die Grenzen zwischen berechtigter Kritik an israelischer Regierungspolitik und Antisemitismus klar definiert habe, sagte Ernst. "Wer bei uns antisemitische Sprüche klopft, muss mit harten Konsequenzen rechnen. Gerade deshalb lasse ich es nicht zu, dass unsere Mitglieder in dieser Form diffamiert werden."

Der stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Dietmar Bartsch, hält die Kritik an antisemitischen Tendenzen in der Partei hingegen für berechtigt. Der Zentralrat der Juden habe der Linken "etwas ins Stammbuch geschrieben, das wir sehr, sehr ernst nehmen sollten", sagte Bartsch der in Halle erscheinenden "Mitteldeutschen Zeitung". Die Partei habe an dieser Stelle ein Problem, auf das sie mit der jüngsten Resolution der Fraktion angemessen reagiert habe. Die darin eingenommene Position müsse sie jetzt auch halten, zitiert dpa aus dem Gespräch.

Findet Gysi noch Gehör?

Die Auseinandersetzung zwischen Israel-Freunden und Israel-Gegnern droht die Partei zu zerreißen, mutmaßt unterdessen der "Spiegel". Gysi habe die Situation durch sein "Lavieren" sogar noch angeheizt. Unter Federführung des Fraktionschefs hatte die Partei zunächst eine Erklärung verabschiedet, in der die Linke sich von jeglichem Antisemitismus distanziert. Daraufhin protestierten Mitglieder der Partei, das Papier sei ein "Maulkorberlass". Nun will Gysi einen weiteren Beschluss fassen, der zeigen soll, wie die Linke fälschlich als antisemitisch gebrandmarkt wird, und der Kritik an der israelischen Regierung eindeutig erlaubt. Derweil bekannte Benjamin-Christopher Krüger, Gründungsmitglied des Bundesarbeitskreises "Shalom", der sich gegen Antisemitismus in der Partei einsetzt, im "Spiegel": "Wir haben ein Antisemitismusproblem." So werde etwa versucht, seiner Gruppe den Geldhahn zuzudrehen. Linke schürten antisemitische Stereotypen, meint Krüger.

Wieviel Beachtung Gysis erster Beschluss überhaupt findet, scheint zudem fraglich zu sein. Das Magazin "Focus" berichtet aktuell, ein Mitarbeiter der Israelkritikerin und Linken Christine Buchholz habe einen in die Kritik geratenen Vortrag verteidigt, in dem er dem Zionismus und dem Nationalsozialismus dieselben Wurzeln unterstellt und die Hamas zu einer Befreiungsbewegung erklärt habe, "die wir zu unterstützen haben als Linke".

Doch es gibt auch einen anderen Flügel der Partei. So setzen sich Politiker wie Petra Pau, Dagmar Enkelmann, Dietmar Bartsch oder Bodo Ramelow laut "Spiegel" dafür ein, dass die Debatte um Antisemitismus ein Ende findet. So fand vor allem letzter klare Worte. Ramelow fürchte, dass es vielen Genossen in Wirklichkeit gar nicht um das Unrecht an den Palästinensern gehe, "sondern eher um einen ungewünschten Staat Israel, den man unter Vorspiegelung eines internationalistischen Fähnchens am liebsten verschwinden sehen möchte". (pro)

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