Angst vor dem Internet

Die meisten Regierungen dieser Welt wollen nur eins: ihre Bürger schützen. Da ist der Wunsch groß, das Internet ebenso zu reglementieren wie den Straßenverkehr. Wohin die Sorge um den angeblich "rechtsfreien" Raum führen kann, zeigt ein Fall aus der Türkei.
Von PRO

Wer in der Türkei das Andenken des großen Kemal Atatürk herabsetzt, kann zu einer Haftstrafe von bis zu drei Jahren verurteilt werden. Ein Gesetz aus dem Jahre 1951 steht vor einer solchen Tat. Was aber, wenn jemand die Dreistigkeit haben sollte, den großen Reformator der Türkei im Internet in den Dreck zu ziehen? Am 23. Mai 2007 schuf die Türkei für einen solchen Fall ein neues Gesetz: Eine Webseite muss geschlossen werden, wenn bestimmte Tatbestände erfüllt sind. Webseiten können verboten werden, wenn sie zum Selbstmord aufrufen oder den sexuellen Missbrauch von Kindern propagieren. Und: wenn sie gegen Atatürk-Gesetz von 1951 verstoßen.

Ein Hauptmerkmal des Internet ist es, dass es keine Ländergrenzen kennt. Nie zuvor war Wissen so schnell und aus nahezu allen Enden der Welt ins heimische Wohnzimmer holbar. So kann es kommen, dass in einem Land fern der Türkei jemand das Bild Atatürks mit Blümchen versieht, und es – trotz Beleidigungsverbot – auch in der Türkei zu sehen ist. So geschehen im vergangenen Jahr: Unter den mehreren Millionen Filmen von "YouTube" tauchte eine Sequenz auf, die Atatürk mit roten Bäckchen zeigte, umringt von rosafarbenen Blumen. Atatürk, ein Schwuler, sollte die Aussage des Filmchens sein, das von einem Griechen ins Netz gestellt worden war.

Kurzerhand ließ die Türkei das gesamte Youtube-Portal im Mai 2008 verbieten. Wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtet, stößt jeder, der seitdem die international bekannte Filmseite ansurft, auf den entsprechenden Gerichtsbeschluss.

Zensur statt normaler Rechtssprechung

Peinlich allerdings, dass sich der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan selbst im November verplapperte und zugab, Youtube wie alle westlichen Internet-User zu nutzen. Der Vorsitzende der islamisch geprägten "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) rief seine Mitbürger sogar dazu auf, es ihm gleichzutun: "Ich besuche Youtube. Und Sie sollten es auch tun", sagte Erdogan, nachdem ihn ein Journalist an das in der Türkei geltende Youtube-Verbot erinnerte.

"Ich habe das Atatürk-Video gesehen, bevor ‚Youtube‘ bei uns verboten wurde. Es ist wirklich ein dummes, ein vollkommen überflüssiges Video. Aber es ist der falsche Weg, deswegen die Seite zu verbieten", sagte Deniz Tan, Mitgründerin einer Initiative, die sich gegen die Zensur des Internets in der Türkei einsetzt, laut F.A.Z. Auch Firat Yildiz, ein in der Türkei bekannter Blogger, hatte feststellen müssen, dass wieder einmal eine Internetseite gesperrt worden war. So gründeten sie die Gruppierung.

Aus Protest gegen ein Gesetz, dass die Türkei vom eigentlich weltweiten Internet absperren will, ließ er seine Webseite genauso aussehen wie eine von der Zensur gesperrte Seite. "Es war nur eine Imitation, aber jeder Besucher dachte, nun sei auch meine Seite verboten worden", sagt er. Noch in derselben Nacht beschlossen 40 weitere Webseitenbetreiber, es ihm nachzutun. "Nach einer Woche waren es mehr als 500", sagt Yildiz.

Internet-Sperren – fast immer nutzlos

Ein Argument, das derzeit auch bei der Diskussion um Internet-Sperren in Deutschland immer wieder angebracht wird, tauchte sehr bald in der Türkei auf: Internet-Sperren lassen sich fast immer sehr leicht umgehen. Wer in der Türkei eine Webseite nicht aufrufen kann, verwendet einfach einen Proxy-Server, der im Ausland steht. Wer die von Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen ersonnene Internetsperre umgehen möchte, hat auch dies in wenigen Klicks erreicht. Eine Internet-Zensur: im Grunde zwecklos. Und die eigentlich strafbaren Inhalte werden durch eine bloße Sperre nicht gelöscht. Deniz Tan: "Warum zwingt mich der Staat, eine Hintertreppe im Internet zu benutzen, um auf eine harmlose Seite zu gelangen? Und was geschieht, wenn eines Tages auch die Hintertüren geschlossen werden?"

Und noch eine Frage, die Kritiker des Stoppschildes der Familienministerin anbringen, stellt sich auch den Türken: Wie einfach ist es, Inhalte aus dem Internet zu sperren, die irgendwem nicht passen – obwohl sie gar nicht gegen Gesetze verstoßen? Die F.A.Z. berichtet: "Fest steht, dass es durch das von der AKP erlassene Gesetz bedeutend leichter geworden ist, Internetseiten zu verbieten – und dass sich auffallend viele Verbote auf Seiten beziehen, die angeblich die religiösen Gefühle des jeweiligen Beschwerdeführers verletzen. Viel Aufwand erfordert es nicht, eine Sperrung zu erwirken. Jeder, der sich vom Inhalt einer Internetseite beleidigt fühlt, kann sich an ein Gericht wenden und deren Sperrung beantragen."

Dabei ist das Internet auch in der Türkei kein "rechtsfreier Raum", vor dem auch zahlreiche deutsche Politiker warnen. Auch Deniz Tan kennt den Vorwurf, das Internet sei der Raum der moralischen Enthemmung. "Pädophilie ist auch im richtigen Leben strafbar, und das sollte natürlich auch im Internet so sein." Kasim Zorlu, ein anderer Mitarbeiter der Antizensurinitiative, wundert sich: "Auf der einen Seite werden die Schulen mit Computern ausgerüstet, aber auf der anderen Seite wird der Zugang zum Internet eingeschränkt." Der nationalistisch-islamistische Sektenführer Adnan Oktar etwa nutzt die neuen Möglichkeiten fleißig. Er verlangt einfach die Sperrung von Webseiten, wenn diese den "Irrtum der Evolutionstheorie" behaupten. "Mehr als sechzig Internetseiten wurden auf Oktars Betreiben gesperrt, unter anderem der Auftritt des britischen Chefatheisten Richard Dawkins", heißt es in der F.A.Z. Dass die Terroranschläge vom 11. September in Wahrheit von Darwinisten verübt worden sind, darf Oktar hingegen auf seinen Webseiten behaupten. Seinen Feldzug gegen das Internet, unterstützt von türkischen Gerichten, setzt Oktar unbeirrt fort – und wehe dem türkischen Blogger, der ein böses Wort über ihn verliert.

Die deutsche Bundesfamilienministerin hat ein Gesetz ins Rollen gebracht, das Webseiten mit kinderpornographischem Material sperren soll. Das bedeutet: die schmutzigen Bilder und Filme werden nicht unbedingt gelöscht, es hängt jedoch ein Stoppschild davor, das nur der nicht umfahren kann, der sich gar nicht mit dem Internet auskennt. Vor zwei Wochen warnte die Ministerin vor dem Internet als "rechtsfreiem Chaosraum, in dem man hemmungslos mobben, beleidigen und betrügen kann". Sie mahnte daher eine Kontrolle des Internet an und forderte "Benimm-Regeln" für dessen Benutzung. Am Wochenende forderte auch Kanzleramtsminister Thomas de Maizière "Verkehrsregeln im Internet".

Das Bundeskriminalamt entscheidet in Zukunft, welche Webseiten auf die schwarze Liste kommen und welche nicht. Einsicht in die Methode oder über die gesperrten Webseiten hat der Bürger nicht. Noch sind keine weiteren "kriminellen" Bereiche vorgesehen, die ebenfalls gesperrt werden sollen. Doch wir können Vertrauen in unserer Politiker haben, denn die Regierungen wollen nur eins: die Bürger schützen. (PRO)

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