Anarchie am Berg Sinai

Die Komische Oper in Berlin zeigt derzeit mit „Moses und Aron“ biblischen Stoff. Darin kämpfen die beiden jüdischen Anführer in opulenten wie brutalen Szenen um göttliche Deutungshoheit, und das Volk Israel geht an seiner eigenen Verdorbenheit zu Grunde. Eine Theaterkritik von Anna Lutz
Von PRO
Moses will das Volk Israel aus Ägypten führen – doch ihm fehlen die Worte
„Moses und Aron“ in der Komischen Oper Berlin zu erleben, ist ein bisschen wie ein Gemälde von Hieronymus Bosch zu betrachten. Es gibt so viel zu sehen, dass das Auge schnell überfordert ist, zugleich ist das Ganze derart brutal, dass das Gehirn gerne ausschalten möchte und zuallerletzt fasziniert das Böse so sehr, dass man eben doch hinsieht. Komponist und Autor Arnold Schönberg, selbst ein zum Protestantismus übergetretener Jude, lehnte die Handlung seiner in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts entstandenen Oper an die Bibel an. Als Moses auf den Berg Sinai steigt und lange nicht wiederkehrt, gießt Aron (der im Stück übrigens tatsächlich mit nur einem A geschrieben wird) aus dem Schmuck der Israeliten ein goldenes Kalb, das das Volk als Gott anbetet. Barrie Kosky inszeniert den Götzen als goldene Schönheit, die knapp bekleidet lasziv vor einer Kamera tanzt – eine Anspielung an die Traumfabrik Hollywood und deren jüdische Bezüge. Die Dutzenden auf der Bühne zusammengedrängten Israeliten bejubeln und beknien ihre neue Göttin, deren Bewegungen immer zuckender, immer abgehakter werden, und deren Gesicht sich zunehmend in eine Grimasse verwandelt.

Der Exzess der Israeliten

Auf den sexualisierten Exzess folgt der Tod. Die Israeliten fallen mordend übereinander her, trampeln ihren Nächsten nieder, reißen ihm die Eingeweide heraus. Im Stück ist das möglich, weil Kosky zahlreiche fast lebensgroße Puppen auf die Bühne bringt. Viele von ihnen sehen aus wie orthodoxe Juden, tragen Schläfenlocken oder Kippa. Übrig bleibt am Ende ein Leichenhaufen, über den Moses heruntertaumelt. Die Zehn Gebote trägt er nicht in Stein gemeißelt bei sich, sondern in roten Lettern auf der Haut. Aus Verzweiflung über den Abfall vom Glauben der Israeliten zerstört er folglich nicht die Tafeln, sondern den eigenen Körper. Er tötet sich selbst. Dabei ist der Exzess der Israeliten eher ein inhaltlicher Randaspekt des Stücks. Dem 1951 verstorbenen Schönberg ging es einst um eine freilich biblisch nicht ableitbare Rivalität zwischen Moses und Aron. Moses, der wortkarge Berufene, hat wenig Erfolg damit, die Israeliten vom Auszug aus Ägypten zu überzeugen. Da muss erst Aron kommen, der in der Berliner Inszenierung Schlangen aus einem Hut zaubert und Moses zuerst mit Aussatz belegt, um ihn später effektvoll zu heilen. Mit solcherlei brutalen Taschenspielertricks überzeugt der öffentlichkeitswirksame Aron die nach Wundern heischende Masse. Moses kann das Ganze nur geschehen lassen und ist am Ende trotz seiner Nähe zu Gott Zeuge des Scheiterns seines Volkes. Einem Scheitern, dessen Grundstein schon gelegt wurde, als es den Israeliten nicht um Gottesnähe, sondern um Showeffekte ging.

200 Darsteller plus Puppen

Die aufwändige Inszenierung lässt Darsteller und Musik in den Hintergrund treten, was die meisten Zuhörer aufgrund der Atonalität des Stückes wohl nicht stört. Anders ausgedrückt: Wer bei dieser Oper eingängige Melodien erwartet, ist am falschen Platz. Schlimm ist das nicht, es verleiht dem düsteren Inhalt und Bühnenbild des Stückes vielmehr zusätzlich Vehemenz. Auch sind es nicht die Hauptdarsteller Robert Hayward und John Daszak, die am Ende den lautesten Applaus einheimsen. Es ist der Chor, der hier als Volk Israel auf der Bühne zu sehen ist. Gemeinsam mit den Solisten bringt die Vorstellung laut Komischer Oper knapp 200 Darsteller auf die Bühne. Quasi nebenbei geht es bei „Moses und Aron“ dann auch noch um antisemitische Ressentiments, die Schönberg selbst erlebt haben muss, und um die Zeitgenossen des Autors und deren Lebenswerk: Theodor Herzl, der den modernen Zionismus erfand, und Psychoanalytiker Sigmund Freud. So tappt der Zuschauer am Ende automatisch in dieselbe Falle wie das Volk Israel selbst. Fasziniert von dieser Themendichte, den pompösen Effekten und den eindrücklichen Bildern muss jeder Besucher sich mühsam auf die eigentliche Botschaft Schönbergs zurückbesinnen, die Moses im Moment seines Todes so ausdrückt: „Oh Wort, oh Wort, das mir fehlt.“ Für Gott gibt es keine treffende Umschreibung, und selbst das größte Wunder lässt seine Größe nicht erahnen. Diese Botschaft auf einer Berliner Bühne zu vernehmen, ist an sich schon bemerkenswerter als jeder darstellerische und bühnenbildnerische Trick. (pro) Die Komische Oper in Berlin zeigt „Moses und Aron“ noch am 2. und 10. Mai sowie am 7. Juli.
https://www.pro-medienmagazin.de/kultur/veranstaltungen/detailansicht/aktuell/juden-christen-muslime-und-der-eine-gott-91496/
https://www.pro-medienmagazin.de/kultur/veranstaltungen/detailansicht/aktuell/du-sollst-dir-kein-bild-machen-91294/
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