Als Weihnachten noch geschossen wurde

Eine nachdenkliche Weihnachtsgeschichte von Sven Günther.
Von PRO
Eine Aufnahme der 5. Korporalschaft in Flandern, abgeschickt am 6. Januar 1918

Region. Weihnachten im Erzgebirge. Es lichtelt und weihräuchert. Durch die Stuben zieht der Duft des Neinerlaa, dem traditionellen Gericht am Heiligen Abend, das aus neun Komponenten besteht. Lichterbögen schmücken die Fenster, Räuchermännchen nebeln, die Kerzen auf Engel und Bergmann sind angezündet.

In Mildenau hat eine Figur einen besonderen Platz eingenommen. Ein Bergmann, der schon im 1. Weltkrieg im Schützengraben lag. Den Beweis liefert eine alte Feldpostkarte, deren Foto vor über 100 Jahren aufgenommen wurde. Abgeschickt hat sie Max Günther am 6. Januar 1918 irgendwo im elend kalten Flandern. Die Adresse: Steinbach im Erzgebirge.

Der Frontsoldat schreibt: „Im Felde den 6.1.18. Liebe Eltern, liebe Geschwister. Hier schicke ich Euch eine Aufnahme der 5. Korporalschaft. Also von uns am Christtag. Der Bergmann von Gertrud ist auch mit drauf.“

Der Bergmann von Gertrud, seiner ersten Frau, als Andenken an die Heimat im elenden Kriegswinter 1917/1918. Ein Stück Erinnerung, ein Stück zuhause, ein Stück Halt.

Auf der Feldpostkarte wird erwähnt, dass der Soldat zwei Pakete nach Haus geschickt hat, deren Inhalt daheim gelassen werden kann. Max Günther schreibt weiter: „Wir sind heute wieder ausgerückt und liegen acht Tage in Gefechtsbereitschaft. Müssen dabei in der Nacht schießen. Hoffentlich beschützt mich der liebe Gott, das mir kein Leid geschieht. Bin Gott sei Dank noch gesund und hoffe es auch von Euch.“

Der genaue Standort, an dem das Foto aufgenommen wurde, lässt sich nicht mehr genau verorten.

Aus einer Inschrift am Fuße des hölzernen Bergmannes mit den zwei Lichtern weiß man, dass Max Günther seit 1916 in Flandern war, wo im Herbst 1917 die irrsinnige dritte Flandernschlacht tobte. Eine Offensive der Engländer, die vom 31. Juli bis zum 6. November 1917 dauerte. Die Bilanz: Die Alliierten hatten den Verlust von 325.000, die Deutschen von etwa 260.000 Soldaten zu beklagen. Max Günther überlebte, brachte den Bergmann von Gertrud wieder mit nach Hause ins Erzgebirge.

Krieg, Tod, Elend, Hunger, Kälte.

Der Bergmann aus dem 1. Weltkrieg hat jetzt seinen Platz in Mildenau gefunden Foto: Sven Günther
Der Bergmann aus dem 1. Weltkrieg hat jetzt seinen Platz in Mildenau gefunden

Vor nur 100 Jahren war Weihnachten kein Fest des Konsums. Es ging an vielen Orten um das nackte Überleben. Man half sich gegenseitig in der Not, brauchte die Familie, Freunde, Kameradschaft.

Wir sollten öfter daran zurückdenken, in uns gehen und uns darüber bewusst werden, dass es wichtigere Dinge gibt, als Pokémons zu haschen, das neueste Smartphone zu besitzen oder dem neuen X-Box-Game entgegenzufiebern.

An Gertruds Bergmann konnte sich Max Günther bis 1939 in Friedenszeiten freuen, erlebte den 2. Weltkrieg in der Heimat mit. 1945 wurde er nach Bautzen gebracht, wo er am 24. März 1946 unter ungeklärten Umständen als sogenannter Internierter starb.

Der Bergmann blieb in der Familie, hat jetzt seinen Ehrenplatz gefunden. In Mildenau, bei mir, dem Enkel des Feldpostkartenschreibers.

Dieser Text erschien zuerst im Wochenendspiegel.

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