„Alles ist okay so, wie es ist“

Was wird man im Sterbebett rückblickend über sein eigenes Leben sagen? Christiane zu Salm, eine der erfolgreichsten Frauen der deutschen Medienlandschaft, hat eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin gemacht und in einem Buch Gespräche veröffentlicht, die sie mit Sterbenden geführt hat. „Dies ist kein Buch über das Sterben, sondern ein Buch über das Leben“, schreibt zu Salm gleich zu Beginn – und hat damit vollkommen recht. Eine Rezension von Jörn Schumacher
Von Jörn Schumacher

„Dieser Mensch war ich. Nachrufe auf das eigene Leben“ lautet der Titel des Buches von Christiane zu Salm. Und man würde sofort annehmen, dass es darin vor allem um Tod und das Sterben geht. Doch wer darin blättert – und sich höchstwahrscheinlich schnell festliest –, merkt schnell, dass das genaue Gegenteil der Fall ist. Zu Salm hat Texte von Menschen versammelt, die den sicheren Tod vor Augen haben, und ihre Lebens-Rückblicke sind schonungslos ehrlich und so bunt wie das Leben nur sein kann. Denn wann ist man schon mal so offen mit sich und seinen Ansichten über andere Menschen und das Leben im Allgemeinen, wenn nicht am Ende, wenn es sich nicht mehr lohnt, zu lügen oder zu relativieren?

„Ich hätte mehr aus meinem Leben machen sollen“

Es gibt viel Bedauern; man gibt sich selbst die Schuld oder anderen, bereut tiefgreifende Entscheidungen oder würde manches Verpasste gerne nachholen. Da ist der Mann, für den die Männerfreundschaft mit seinem Schulfreund Klaus das Wichtigste war. Doch eines Tages erbte er sehr viel Geld, und danach waren Klaus und dessen Frau bestimmt von Neid auf seinen alten Freund und Nachbarn. Darüber ging die Freundschaft für immer in die Brüche, und der nun Sterbende ist darüber sehr verbittert. Da ist der Informatiker („ein Gerechtigkeitsfanatiker“), der sich über seinen Chef ärgerte, der seine Mitarbeiter stets ungerecht behandelte. Ein 73-jähriger Mann sagt an seinem Lebensende: „Ich hätte früher zugeben sollen, dass ich Männer liebe.“ Mit Mitte zwanzig habe er eine Frau geheiratet. Rückblickend muss er feststellen: „Auf keinem einzigen Foto sehe ich glücklich aus.“

Außerdem gibt es so manche Lebensbeichte. Etwa von der Frau, die zugibt, dass sie als Prostituierte gearbeitet hat und dass ihre Tochter von einem Freier ist. Dies habe sie ihr nie erzählt, gesteht die alte Dame. Bei manchem taucht die schlichte Erkenntnis auf: „Ich hätte mehr aus meinem Leben machen sollen.“

Den eigenen Nachruf schreiben

Ein solches Buch hätte man von einer Frau wie Christiane zu Salm eher nicht erwartet. Sie gründete einen Musikverlag und ein Musiklabel und war Geschäftsführerin von MTV Europe. Danach war sie Geschäftsführerin des Privatsenders tm3, den sie später in den Gewinnspielsender 9Live umwandelte, und Geschäftsführerin der Betreibergesellschaft von sonnenklar TV.  Nach dem Verkauf ihrer Geschäftsanteile an sonnenklar TV und 9Live an die ProSiebenSat.1 Media AG gab sie diese Tätigkeit auf und lehrt seitdem an der Universität der Künste in Berlin als Gastprofessorin Medienmanagement. Seit 2007 hält sie zudem einen Sitz im Verwaltungsrat der Schweizer Mediengruppe Ringier AG.

Zu Salm ist die Tochter des Mainzer Verlegers Volker Hansen. Sie heiratete 1995 Ludwig Prinz zu Salm-Salm, doch die Ehe wurde 2002 geschieden. Danach heiratete sie den früheren Vorstandsvorsitzenden des TV-Senders Premiere, Georg Kofler, ließ sich von ihm scheiden, und heiratete ihn 2010 erneut. Wie kommt eine eine solche Powerfrau dazu, Sterbebegleiterin zu werden? Seit ihrer Jugend sei sie fasziniert davon gewesen, dass man das Leben von der anderen Richtung aus betrachten könne: Vom Sterben aus. Der Tod sei wie ein Destillationsgefäß, mit dessen Hilfe man gedanklich das herauskristallisieren kann, was am Ende eigentlich bleibt, schreibt sie in ihrem Buch. Häufig im Leben stelle sie sich die Frage: „Wie würde ich von meinem Sterbebett über diese oder jene Entscheidung denken?“ Zu Salm meldete sich beim Lazarus-Hospiz in Berlin für eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin an. Sechs Monate lang kam sie so fast jedes Wochenende unmittelbar mit dem Tod und dem Abschiednehmen in Berührung. Einen der intensivsten Momente erlebt sie gegen Ende des Kurses: Ohne Vorbereitung, ohne Ankündigung, musste sie in nur 15 Minuten ihren eigenen Nachruf schreiben. Dieses Schlüsselerlebnis gab den Anstoß zu ihrem Buch.

Prüfungen, die Gott uns auferlegt

Nur selten geht es in dem Buch um den Glauben. Die meisten interviewten Personen glauben nicht an ein Leben nach dem Tod. Nur manchmal macht jemand eindeutige Aussagen wie „Ich bin ein zutiefst gläubiger Mensch“, wie etwa der 59-jährige Uwe Behring (die Namen hat zu Salm geändert). Er fügt hinzu: „An meinem Grab sollt ihr über mich sagen, dass ich ein Kämpfer war, der mit Gottes Hilfe viel geschafft hat.“ Eine Frau, die zeit ihres Lebens unter Schüchternheit und Stottern litt, berichtet, wie sie im Alter von 39 Jahren ihren Mann im Bibelkreis kennen lernte und schließlich sehr glücklich mit ihm wurde. Eine andere ältere Damen sagt: „Ich habe das Gefühl, dass am Ende vor dem Herrgott zählt, ob man menschlich war, anderen eine Freunde bereitet hat, und nicht, ob man viel geleistet hat.“

Doch ob gläubig oder nicht – am Ende des Lebens geht es für jeden Menschen vor allem darum, ein Resümee zu ziehen. „Ich bin rund mit mir, das ist doch die Hauptsache. Alles ist okay so, wie es ist“, sagt eine Frau. Ein Mann erkennt: „Der große rote Faden in meinem Leben hieß bisher Einsamkeit. Ich war irgendwie immer Außenseiter, konnte nie so richtig Anschluss finden, also echten Anschluss im Sinne von Nähe zu Menschen. Selbst in meiner Ehe nicht, Margot weiß das.“ Ein Flugbegleiter findet Trost in der Bibel. „Zum Beispiel bei den Korinthern, wo sinngemäß steht, dass Schicksalsschläge so was wie Prüfungen sind, die Gott uns auferlegt. Und dass er die Menschen auf diese Prüfungen vorbereitet, indem er uns die Kraft gibt, sie auch zu bestehen.“

Woran das Herz hängt

Diese Rückblicke können für den Leser hilf- und lehrreich sein, wenn er sich auf sie einlässt. Natürlich schwingt stets die traurige Tatsache mit, dass all die Personen bald nach den Interviews entweder gestorben sind oder mit großer Wahrscheinlichkeit sterben müssen. Dennoch muss man bei der Lektüre immer wieder schmunzeln. Die Werte, die den Menschen im Leben wichtig sind, sind eben sehr unterschiedlich, lernt man in diesem Buch. Eine 53-jährige ehemalige Supermarktkassiererin schreibt, dass eine gewisse Zeit lang ein Mann jeden Abend ins Geschäft gekommen sei, um Äpfel, Bier und Windeln zu kaufen. Jeder habe sich gefragt, was dieser Mann mit den Windeln anstelle. Ihr Bericht endet mir den Worten: „Niemand von uns hat sich getraut, ihn nach den Windeln zu fragen. Das hätte ich gerne noch mal gewusst, bevor ich sterbe.“

Unweigerlich münden alle Rückblenden in die große Frage nach dem Sinn des Lebens: War ich eine gute Mutter? Werden meine Kinder zufrieden, ehrlich und verantwortungsbewusst? Habe ich genug Spaß gehabt? Auch wenn die Berichte nur sehr kurz sind, bei jedem kristallisiert sich in etwa heraus, was der Kern des Lebens gewesen sein könnte. Oder, wie es in der Bibel heißen würde: woran jemand sein Herz gehängt hat. Und was der Leser für sich als Fazit ziehen kann, könnte im besten Fall dies sein: Dass es besser ist, sich schon mitten im Leben für andere Menschen zu interessieren. Und nicht erst, wenn man kurz vor dem Tod steht.

Christiane zu Salm: „Dieser Mensch war ich. Nachrufe auf das eigene Leben“,
Goldmann  Verlag, 256 Seiten, 17,99 Euro
ISBN: 978-3-442-31350-1

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