Kinder, die brüllen, sich weigern, kleinste Aufgaben zu erledigen und deren Benehmen mit dem Begriff „unhöflich“ noch milde umschrieben ist, kennen wir alle. Doch immer mehr Eltern scheinen solchen Verhaltensweisen ihrer Kinder hilflos gegenüberzustehen. Laut dem Kinderarzt und zweifachen Vater Michael Winterhoff hat die Zahl der Störungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen in den vergangenen 15 Jahren enorm zugenommen. Kinderärzte diagnostizieren Defizite in den Bereichen Motorik, Sprachentwicklung und Wahrnehmung. Ein großer Teil der Grundschüler zeigt bei den Einschulungstests bereits starke Auffälligkeiten. Betriebe beklagen die mangelnde Ausbildungsreife der Schulabgänger. Dabei tun bemühte und verständnisvolle Eltern alles dafür, um glückliche und selbstbewusste Kinder heranzuziehen.
Was läuft schief in Deutschlands Kinderzimmern?
Für den Autor ist die Entwicklung von Kindern hin zu „Monstern und Tyrannen“, wie er es etwas drastisch ausdrückt, die Folge einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung. „Kinder haben im heutigen Gesellschaftssystem keine Chance, sich kindgerecht und damit altersentsprechend zu entwickeln“, schreibt Winterhoff. Schuld daran sind seiner Ansicht nach die Erwachsenen selbst. Diese begegnen Kindern als Partnern, beziehen sie in Themen ein, für die sie zu jung sind und akzeptieren schlussendlich, dass das Kind die Führung übernimmt. Getrieben von dem Wunsch, ihren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen, stellen sie die Bedürfnisse der Kinder dauerhaft über ihre eigenen. Dadurch lernen Kinder, dass ihre Bedürfnisse wichtiger sind als die der Eltern.
Eltern, aber auch Lehrer und Erzieher säßen einem gesellschaftlichen Trend auf, der die Bedürfnisse von Kindern in den Mittelpunkt stelle – und diesen fast alles unterordne. Dabei bräuchten Kinder gerade in der multimedialen Gesellschaft nichts dringender als orientierende Maßstäbe, Strukturen, die Sicherheit bieten und Erwachsene, die Vorbilder sind und die Richtung vorgeben.
Gebt den Kindern das Kommando?
Das Problem an dieser Entwicklung: Kinder lernen die notwendigen Verhaltensweisen wie zuhören, aufpassen und mitarbeiten nur dann, wenn es Regeln gibt, die das Erlernen ermöglichen. Wichtige Lernschritte wie Warten lernen, auf die Gruppe Rücksicht nehmen oder Dinge erledigen, auch wenn man dazu gerade keine Lust hat, kommen zu kurz, wenn es rein nach Lust und Laune des Kindes geht. „Psychische Funktionen können Kinder nicht automatisch, sondern müssen diese von den Eltern erlernen“, erklärt der Kinderpsychiater. Genau dies funktioniere aber nicht, wenn Eltern zu früh dem Kind die Führung überließen. Daher blieben viele Kinder auf dem psychischen Reifegrad eines Dreijährigen stehen. Kindliche Psyche entwickele sich dadurch, dass das Kind ein erwachsenes Gegenüber als Begrenzung der eigenen Individualität wahrnimmt. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) fasste Winterhoff es so zusammen: „Als Säugling muss man nur quaken, dann kommt die Brust. Wenn man Kindern aber auch über das Säuglingsalter hinaus permanent die Brust reicht, ihnen also sofort jeden Wunsch erfüllt, bleiben diese Kinder in der oralen Phase stecken. Sie werden später sehr leicht nach anderen Dingen süchtig: nach Videospielen, Flatrate-Saufen, Fastfood.“
Aber nicht nur die Eltern forderten immer weniger von ihren Kindern und nähmen ihre Elternrolle nicht wahr. Auch in Schulen und Kindertagesstätten sieht Winterhoff eine „schleichende Verschiebung der Maßstäbe nach unten. Lehrer und Erzieher haben vor dem gesellschaftlichen Druck kapituliert“. Beispielsweise bei der Sauberkeitserziehung: Galt es früher als normal, dass ein Dreijähriges zum Kindergarteneintritt trocken sein musste, ist dies laut Winterhoff heute kein Thema mehr. Auch der Geräuschpegel, der heute in Schulklassen herrsche, wäre früher von Lehrkräften nicht toleriert worden.
Hilflose Eltern und gestörte Beziehungen
Für Winterhoff macht sich die Fehlentwicklung bei der Kindererziehung an drei Beziehungsstörungen fest: Die früher unsichtbare, aber klar definierte Grenze zwischen der Kinderwelt und der Erwachsenenwelt ist durch das Modell der partnerschaftlichen Erziehung aufgehoben. Oft genug geben Eltern keine Orientierung mehr, setzen weder Maßstäbe noch Grenzen. Eltern, die ihren Umgang mit dem Kind als partnerschaftlich beschreiben, gestehen oft ihren Kindern eine Reife zu, die diese aufgrund ihres Alters (noch) nicht haben können. Winterhoff kritisierte auch die Einflussnahme des partnerschaftlichen Erziehungsmodells auf die Tagesabläufe in Kindertagesstätten und Schulen. Genau wie im Elternhaus stehe die kindliche Persönlichkeit mit ihren Bedürfnissen im Mittelpunkt. Rituale und feste Strukturen verschwinden zunehmend aus dem Tagesablauf, dafür haben Kinder ständige Wahlmöglichkeiten. Treten Verhaltensauffälligkeiten auf, werden diese zwar von den Erziehern diagnostiziert, sie griffen bei kindlichem Fehlverhalten aber nicht oder nur selten korrigierend ein. Zu selten sähen Erzieherinnen sich selbst als Fachleute, die das kindliche Verhalten in richtige Bahnen lenken könnten.
Als zweite Beziehungsstörung benennt Winterhoff die „Projektion“: Eltern definieren sich über die Kinder, holen sich einen Teil des Selbstbewusstseins über das Verhalten des Kindes. Im Alltag vermeiden diese Eltern Situationen, auf die das Kind negativ reagieren könnte. Sie deuten dessen Reaktion als Liebesentzug, den sie nicht ertragen wollen oder können.
Last not least kritisiert Winterhoff eine von ihm beobachtete Tendenz zur „Symbiose“ (Verschmelzung) zwischen Eltern und Kindern. Bei diesem Prozess macht der Erwachsene das Glück des Kindes zu seinem Glück. Er beginnt für das Kind zu fühlen und zu denken. Mütter und Väter reagieren nicht mehr auf Dinge, die ihr Kind tut, sondern versuchen zu verstehen, was es warum tut.
Mit dem Versuch, eine Verhaltensänderung durch kindliche Einsicht zu bewirken, sind laut Winterhoff jüngere Kinder völlig überfordert: „Wenn Sie mit Ihrem Kind ein Eis kaufen gehen, so sind es ja auch Sie, die entscheiden müssen, wie viele Kugeln Eis das Kind bekommt. Setzen Sie dem Kind keine Grenzen, so wird es sich am Eis überessen – und es wird anschließend nicht wissen, warum es sich übergibt“, erklärte er im SZ-Interview.
Dabei spricht sich Winterhoff nicht für eine autoritäre oder lieblose Erziehung aus: „Ein Kind ist ein Kind und ein Erwachsener ist ein Erwachsener. Es geht nicht darum, dass ich autoritär bin – das wird in Deutschland schnell vertauscht -, sondern ich bin automatisch über dem Kind stehend… Ich habe die Rolle als Vater, als Mutter, als Lehrer, als Erzieher“, so Winterhoff in dem Internetportal „Wir Eltern in Europa“. Vielen Eltern sei das intuitive Erziehen abhanden gekommen, bei dem sie naturgemäß eine Hierarchie zwischen Kindern und Erwachsenen empfinden und herstellen.
Es verwundert nicht, dass der Kinderpsychiater mit etlichen extremen Beispielen, aber auch Aussagen bei Pädagogen und Erziehungswissenschaftlern auf Kritik stößt. Wenn er beispielsweise schreibt, „mein Ansatz ist die einzige Möglichkeit, diesen Trend sinnvoll zu analysieren und Strategien zu entwickeln, wie man ihm wirksam entgegen treten könnte“, stellt er moderne Erziehungskonzepte in Frage. Dabei will Winterhoff weder abwerten, noch fordert er neue pädagogische Konzepte. Seiner Ansicht nach ist die psychische Unreife von Kindern und Jugendlichen, verursacht durch ein falsches Verhalten der Erwachsenen, die Ursache vieler Probleme.
Kinder wieder als Kinder verstehen und behandeln
Sollten Eltern also einen Elternführerschein machen müssen, in dem sie beigebracht bekommen, wie sie mit ihren Kindern umgehen sollen? Nein, so einfache Lösungen benennt Winterhoff nicht. Seine Forderung an das System Familie, aber auch das System Gesellschaft lautet: Kleine Kinder müssen wieder als Kinder verstanden werden, der durchaus wichtige partnerschaftliche Umgang kann dann mit zunehmendem Alter und Entwicklungsstand des Kindes eingeübt werden. Kindergärten und Schulen sollten sich als Institutionen verstehen, die die Aufgabe haben, die Psyche von Kindern zu bilden und heranreifen zu lassen. Wenn Eltern wieder zurückfinden zu ihrer angemessenen Rolle als liebevollem Gegenüber des Kindes, das sich an den Eltern orientieren kann und ein Kind wieder als Kind, nicht als kleiner Erwachsener behandelt wird, lassen sich gefährliche Strömungen für die Zukunft der Gesellschaft vermeiden. Um Eltern konkrete Hilfe an die Hand zu geben, erscheint im Januar der Folgeband des Autors: „Tyrannen müssen nicht sein“.