Die uralte Handschrift enthält auf rund 400 Blättern die erste überlieferte vollständige Fassung des Neuen Testaments, etwa die Hälfte des Alten Testaments, apokryphe Schriften sowie zwei frühe christliche Texte, die in modernen Bibelfassungen nicht aufgenommen sind. Die Dokumente sind seit ihrer Entdeckung im 19. Jahrhundert auf vier Bibliotheken weltweit verteilt und sind nun erstmals im Internet zusammen geführt worden. 43 Pergamentblätter werden von der Leipziger Universitätsbibliothek verwahrt. Weitere Originalseiten befinden sich im Katharinenkloster auf dem Sinai, in der British Library in London sowie in der russischen Nationalbibliothek St. Petersburg. Die vier Parteien hatten am 9. März 2005 ein Partnerschaftsabkommen getroffen und sich darauf geeinigt, den Codex Sinaiticus zu digitalisieren und der Öffentlichkeit online zur Verfügung zu stellen.
Zu den bereits online gestellten Bibelhandschriften gehören die 43 Blätter aus Leipzig sowie 67 Pergamentblätter aus London. Darunter fallen das Markus-Evangelium und mehrere Teile des Alten Testaments, wie das Buch der Psalmen und das erste Buch der Chronik. Bis zum Abschluss des Projekts im Juli 2009 sollen auch die restlichen Seiten auf der Website zur Verfügung gestellt werden. Geplant sind außerdem eine Textausgabe und ein gedrucktes Faksimile.
Codex als digitaler Film
Der Text ist auf Griechisch geschrieben und kann unter www.codex-sinaiticus.net abgerufen werden. Dort zeigen hochauflösende Fotos die Bibelhandschrift, die ausschließlich in Großbuchstaben, ohne Leerzeichen und Bilder gesetzt ist. Interessierte können die Seiten wie einen digitalen Film verschieben, Textstellen vergrößern und sich die griechische Transkription inklusive aller Korrekturen anzeigen lassen. Transkription und Manuskripte sind miteinander verlinkt, so dass es möglich ist, zwischen den entsprechende Stellen in beiden Versionen hin- und herzuspringen. Deutsche und englische Übersetzungen von ausgewählten Textstellen sind ebenfalls verfügbar. Zudem gibt es eine Auswahl verschiedener Ansichten, um die physischen Eigenschaften des Pergaments besser betrachten zu können. Die Website war in den ersten Tagen nach der Freischaltung aufgrund des enormen Besucherandrangs überlastet.
Ausführlichkeit der Anmerkungen einmalig
Zu den Besonderheiten des „Codex Sinaiticus“ zählen unter anderem auch Bücher, die nicht zur jüdischen Bibel gehören und in der protestantischen Tradition als apokryph bezeichnet werden. Darunter fallen das zweite Buch Esra, die Bücher Tobit, Judith, das Erste und Vierte Buch der Makkabäer, die Bücher Weisheit und Jesus Sirach. Außerdem finden sich im Anhang an das Neue Testament der Brief des Apostels Barnabas und der „Hirte“ von Hermas, eine Schrift, die hauptsächlich Gleichnisse und Visionen enthält und für die Entwicklung der Lehren von der sakramentalen Buße eine große Rolle spielte.
Bemerkenswert sei vor allem die Zahl der Anmerkungen, heißt es auf der Website des „Codex Sinaiticus“. Keine andere Handschrift der christlichen Bibel sei so ausführlich mit Anmerkungen versehen. Schon ein flüchtiger Blick auf die Transkription zeige die Häufigkeit der Anmerkungen. Sie datieren von den Zeiten der ursprünglichen Schreiber im 4. bis zum 12. Jahrhundert und beträfen Änderungen einzelner Buchstaben bis zur Einfügung ganzer Sätze.
Projekt eine bedeutende kultur-historische Tat
„Wenn das Projekt einmal abgeschlossen sein wird, ist eine bedeutende kultur-historische Tat vollbracht. Der Besitzegoismus bei Kulturgütern ist dann exemplarisch für die Zukunft überwunden“, sagt Ulrich Johannes Schneider, Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig im Gespräch mit „pressetext“. Die Digitalisierung des Codex sei ein umfassendes Unternehmen, und das nicht nur, weil die Teile der Handschrift auf vier Orte der Welt verteilt seien. „Bisher erschwerten vor allem die unterschiedlichen Ansprüche der Länder, wo die Fragmente lagern, ihre Zusammenführung“, so Schneider. Die Digitalisierungstechnik und die damit verbundenen neuen Möglichkeiten kämen dem Projekt da sehr entgegen.
Ein wichtiges Ziel der Projektkooperation sei außerdem für ein besseres Verständnis des Textes der Handschrift und der Korrekturen zu sorgen. Ebenso solle die Geschichte des Codex erforscht werden, um die Dokumente in ihren historischen Kontext einordnen zu können.
Verstreut in alle Welt
Entdeckt wurden die uralten Handschriften Mitte des 19. Jahrhunderts. Der deutsche Theologe Konstantin von Tischendorf hatte im Auftrag des Zaren Alexander II. nach alten Handschriften gesucht und dabei Teile des Codex Sinaiticus im Katharinenkloster gefunden. Einen Teil der Handschriften durfte Tischendorf mit nach Leipzig nehmen. Einen bedeutenden Teil verkaufte die sowjetische Regierung 1933 nach London. Weitere Blätter des Codex wurden in den 70ern des 20.Jahrhunderts von Mönchen des Katharinenklosters nach einem Brand in einem bis dahin unbekannten Raum entdeckt. (PRO)