Ägypten: Regime gegen Religion

Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in Ägypten steht fest: Bei der Stichwahl im Juni müssen sich die Bürger zwischen einem Kandidaten des alten Regimes und einem konservativen Muslimbruder entscheiden. Doch was genau verbirgt sich eigentlich hinter der Muslimbruderschaft? Pro hat mit Experten gesprochen.

Von PRO

Knapp 50 Prozent der Ägypter haben sich in der vergangenen Woche aufgemacht, um ihren neuen Präsidenten zu wählen und den Umsturz in Ägypten zu zementieren. Am 16. und 17. Juni werden sie es wieder tun. Dann müssen sie sich endgültig entscheiden – zwischen dem früheren Premierminister und Ex-Luftwaffenchef Ahmed Schafik und dem Vorsitzenden der Partei "Freiheit und Gerechtigkeit" der Muslimbruderschaft. Erster gilt als Profiteur des Mubarak-Regimes, zweiter als konservativer Vertreter der Muslimbrüder. Schon nach der ersten Wahlrunde demonstrierten Anhänger beider Seiten. Wie die "Tagesschau" berichtet, setzten mehrere hundert Menschen die Wahlkampfzentrale Schafiks in Brand. Später protestierten dessen Anhänger vor dem zerstörten Gebäude gegen den Kandidaten der Muslimbruderschaft. Auf dem Tahrir-Platz im Zentrum der Hauptstadt flogen Steine.

Doch was steckt eigentlich hinter der Muslimbruderschaft, deren Kandidat in die Stichwahl geht und die die derzeit stärkste Kraft im Parlament ist? Die Muslimbrüder präsentieren sich derzeit als eine Art "Good Guy" und Gegengewicht zum momentan noch herrschenden und international kritisierten Militärrat. Das Parlament soll bis Ende Juni eine Verfassung erarbeiten, dann könnte die neue Regierung die Macht übernehmen. In den vergangenen Jahrzehnten machten sie vor allem durch ihr soziales Engagement von sich reden. Die Muslimbrüder eröffnen Schulen und versorgen Arme, das hat ihnen die breite Unterstützung der Bevölkerung eingebracht.

"Das gibt die Scharia nicht her"

Kritiker werfen den Muslimbrüdern dennoch vor, sich zwar demokratisch zu geben, in Wirklichkeit aber islamistische Motive zu verfolgen und sich nicht ausreichend von einem gewaltsamen Dschihad distanziert zu haben. Für Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher verstehen die Muslimbrüder den Islam nach wie vor als politisches und gesellschaftliches Grundsatzprogramm. Echte Freiheits- und Gleichheitsrechte aller Bürger seien in diesem Zusammenhang nicht möglich. "Das gibt die Scharia nicht her", erklärt sie gegenüber pro.

Die Frage nach der Einführung der Scharia, so wie sie die Muslimbruderschaft versteht, scheint ihr zufolge dem Aufbau eines demokratischen Staates zu widersprechen. Schirrmacher befürchtet eine rechtliche Benachteiligung von Frauen und Andersdenkenden. Nicht nur Christen, sondern vor allem Atheisten könnten das zu spüren bekommen. Ivesa Lübben, Islamforscherin an der Philipps-Universität Marburg, beschäftigt sich seit zehn Jahren mit den Muslimbrüdern, hält sie im Grunde "für eine normale politische Kraft". Doch auch sie räumt gegenüber pro ein, dass der Fall von Nichtreligiosität im ägyptischen Staat nicht vorgesehen ist. So ist die Religionszugehörigkeit etwa im Personalausweis eingetragen. Die Möglichkeit eines Wechsels bestehe nur sehr bedingt. Lübben erwartet zwar, dass die Muslimbrüder als Regierungspartei Rechte für christliche Gemeinschaften garantieren wollen, ist aber skeptisch, wie sich die individuelle Religionsfreiheit gestalten wird.

Judenhasser und Frauenfeinde

Und bei genauerem Hinsehen werden noch weit dramatischere Auswüchse des Verständnisses von Scharia-Recht innerhalb der Bruderschaft deutlich. Stutzig machen beispielsweise Äußerungen des TV-Predigers Jussuf al-Karadawi, eines der Vordenker der Muslimbruderschaft. In seinen Predigten sagt er laut "Spiegel" Sätze wie: "Nicht jeder Frau tun Schläge gut, aber bei mancher ist es hilfreich." Schirrmacher bezeichnet ihn als Verfechter drakonischer Strafen, er plädiere etwa für das Handabhacken bei Diebstahl und den Tod bei Abfall vom Islam. Und er ist laut "Spiegel" ein leidenschaftlicher Judenhasser. 2009 sagte er über sie: "Die ganze Geschichte hindurch hat Gott Leute gesandt, um sie für ihre Verkommenheit zu bestrafen. Die letzte Bestrafung ist von Hitler ausgeführt worden." Westlichen Medien gegenüber zeigt sich allerdings auch Al-Karadawi gemäßigt, verurteilt Gewalt und betont die Toleranz gegenüber Andersgläubigen, was vielerorts zu einer positiven Bewertung des Geistlichen geführt hat.

Das passt zu einer Kritik, die jüngst David Pollock vom Washingtoner "Institut für Nahost-Politik" äußerte. Er unterstellt den Muslimbrüdern eine zwiespältige Medienstrategie. Die Organisation betreibt zwei offizielle Webseiten im Internet, eine auf Englisch und eine auf Arabisch. Pollock verglich die Artikel auf diesen Seiten an einem Tag im Januar und stellte teilweise erhebliche Unterschiede fest. Im Englischen fänden die Menschenrechte und die Minderheit der Christen mehr Beachtung. Zudem warte die englischsprachige Seite mit verschiedenen Texten zu Themen wie "Warum Islamisten die besseren Demokraten sind" und "Demokratie: eines der Ziele der Scharia?" auf. Dagegen gebe es auf der arabischsprachigen Seite keinen solchen Text. Stattdessen habe er dort drei Artikel gefunden, die sich gegen Pressefreiheit aussprächen. Auch der israelische Nahost-Experte Mosche Elad wies Anfang dieses Jahres in Berlin darauf hin: "Wenn Sie die Muslimbrüder verstehen wollen, lesen Sie ihre Texte auf Arabisch, nicht auf Englisch!"

Spielball des Volkes und der Salafisten

Für Ivesa Lübben sind die unterschiedlichen Internetseiten dennoch kein Grund zur Besorgnis: Sie hält es für selbstverständlich, dass eine Webseite, die an den Westen adressiert ist, sich mit anderen Themen beschäftigt als eine arabische, die sich vorwiegend an Ägypter wendet. Schirrmacher hingegen blickt eher skeptisch in die Zukunft: "So manche Minderheit ist schon entzaubert worden, wenn sie schließlich an der Macht war", sagt sie mit Verweis auf das Verbot der Muslimbruderschaft unter den Präsidenten Sadat und Mubarak.

So bleibt es dabei: Die einen sehen besorgt, wie die neue politische Spitze in Ägypten die Macht übernimmt, andere wie Lübben halten die Muslimbrüder schlicht für "Pragmatiker" mit kleinen Schönheitsfehlern. Einig sind sich Lübben und Schirrmacher allerdings in einem: Die ägyptische Bevölkerung will keinen zweiten Iran, kein Strafrecht nach der Scharia und keine Rechtsunsicherheit von Minderheiten. Und so scheint es, als seien die Muslimbrüder letztendlich auch Spielball zweier Kräfte – des Volkes auf der einen und der radikal-islamischen Mitregierungsgruppierung der Salafisten auf der anderen Seite. Denn egal, wen von beiden sie enttäuschen, es würde ihre derzeitige Vormachtstellung gefährden. (pro)

Lesen Sie den kompletten Artikel in der Ausgabe 2/2012 des Christlichen Medienmagazins pro. Diese kann kostenlos und unverbindlich bestellt werden unter der Telefonnummer 06441/915151 oder per E-Mail an info@pro-medienmagazin.de.

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