Abtreibungsdebatte: Mord an Arzt schadet beiden Seiten

Der Mord an einem Abtreibungsarzt in Kansas lässt die Angst vor religiösem Fundamentalismus aus den USA erneut hochkochen. Doch der mutmaßliche Mörder, Scott P. Roeder, scheint ein fanatischer Einzeltäter gewesen zu sein. Dennoch könnte seine Tat die politische Diskussion um Spätabtreibungen verstummen lassen. Das wäre eine Tragödie – und zwar für beide Seiten.
Von PRO

Er wurde „Babykiller“ oder „Mengele“ genannt. Seine Klinik bezeichneten Abtreibungsgegner in den USA als „Todescamp“. Am Sonntagmorgen wurde George Tiller, einer der umstrittensten Abtreibungsärzte der Vereinigten Staaten, vor den Räumen seiner Kirchengemeinde in Wichita im US-Bundesstaat Kansas erschossen. Er war Vater von vier Kindern und hatte zehn Enkel. Doch George Tiller hinterlässt nicht nur eine trauernde Familie. Sein Name wird künftig immer wieder fallen. Er wird ein Instrument werden, mit dessen Hilfe die Angst vor der religiösen Rechten in den USA geschürt wird. Und das, obwohl sich Christen, darunter viele Abtreibungsgegner, derweil von der Bluttat distanzieren.

Bereits drei Stunden nachdem die tödlichen Schüsse gefallen waren, wurde der 51-jährige Scott P. Roeder auf der Autobahn gestoppt und festgenommen. Auf seinem Wagen soll ein Fisch-Symbol mit dem Schriftzug „Jesus“ kleben. „Er hatte den Mord hundertfach erträumt und angekündigt, er war überzeugt, dass das Auge des Herrn wohlgefällig auf ihm ruhte“, schreibt die Zeitung „Die Welt“ über den mutmaßlichen Mörder. Tatsächlich war Roeder wohl Verfechter eines falsch verstandenen alttestamentarischen Gottesbildes.

Mutmaßlicher Mörder war militanter Anhänger alttestamentarischer Lehren

Laut der amerikanischen Zeitung „Washington Post“ ist er Sympathisant der militanten „Montana Freemen“, einer Gruppierung, die sich in ihren Glaubensüberzeugungen auf die Fünf Bücher Mose beruft. Sie lehnt die Judikative des Staates ab und befürwortet Selbstjustiz nach dem Prinzip „Auge um Auge“. Es war nicht das erste Mal, dass Roeder durch Waffengewalt in Erscheinung getreten ist. 1996 wurde er laut „Washington Post“ verhaftet, weil in seinem Wagen Teile zum Bau einer Bombe gefunden wurden. Das Verfahren wurde wegen Formfehlern eingestellt.

2007 soll er den Arzt George Tiller in einem Interneteintrag als „KZ-Mengele unserer Tage“ bezeichnet haben, „der gestoppt werden muss“. Diese Drohung hat er nun wahr gemacht. Viele befürchten, dass Roeder zum Aushängeschild einer christlich-fundamentalistischen Bewegung werden könnte, die zunehmend militant gegen Abtreibungsärzte wie Tiller vorgeht. „Die politische Macht der rechtschaffenen Gotteskrieger im Kongress ist nicht geringer als jene der Schusswaffengläubigen“, beschreibt etwa „Die Welt“ den Einfluss konservativer Christen auf die amerikanische Regierung.

Ein unfairer Vergleich. Nicht nur der Lebenslauf Roeders weist darauf hin, dass der fanatische Abtreibungsgegner so wenig mit christlicher Werteinstellung zu tun hat, wie George W. Bush mit dem politischen Islam. Roeder, so scheint es bisher, war ein Verfechter der Selbstjustiz, eines Prinzips, das nicht nur durch die neuestamentarische Lehre vom stellvertretenden Opfertod Jesu seine Bedeutung verliert. Genauso wichtig: Martin Luther definierte die Unterscheidung zweier Reiche, des himmlischen und des irdischen. Während im Reich Gottes nur den Worten des Schöpfers selbst Folge zu leisten sei, gelte im irdischen Reich die Folgsamkeit gegenüber weltlichen Herrschern. Hier, so interpretierte Luther die Worte Jesu, ist die Nächstenliebe das gültige Prinzip, demnach niemand den anderen richten darf. „Tillers Mörder hat einen Akt der Anarchie begangen (…). Jene, die ihm im Geheimen applaudieren, sollten sich im Klaren darüber sein, dass sie an einer abscheulichen Revolte gegen ihren Schöpfer teilhaben“, schreibt der Theologe und Journalist Uwe Siemon-Netto.

Abtreibungsgegner im ganzen Land distanzieren sich

Selbst die Abtreibungsgegner der Organisation „Operation Rescue“ (Operation Lebensrettung) haben sich derweil von der Bluttat distanziert, obwohl sie sich immer wieder gegen die Praktiken des Arztes Tiller, der Kinder auch nach der 21. Schwangerschaftswoche noch abtrieb, ausgesprochen hatten. Seit Jahren habe man daran gearbeitet, dass Tiller mit friedlichen und legalen Mitteln verurteilt werde. Der Mord aber sei ein „feiger Akt“, zitiert die katholische Nachrichtenagentur „CNS News“ Sprecher der Gruppierung. In ähnlicher Weise äußerten sich christliche Würdenträger und politische Vertreter im ganzen Land.

Dennoch wird der Mord neue Gräben zwischen Abtreibungsgegnern und -befürwortern ausheben und bestehende vertiefen. Das Thema zählt ohnehin zu einem der sensibelsten im politischen Amerika. Scott P. Roeder darf nicht als Gallionsfigur der konservativ-christlichen Politik verstanden werden. Er steht für eine Gruppe fanatisch-religiöser Einzeltäter, die in den USA immer wieder für tragische Schlagzeilen sorgen werden. Doch er steht nicht für das, was christlicher Glaube eigentlich ist.

Bleibt zu hoffen, dass sich weder „Pro-Lifer“ (Abtreibungsgegner) noch deren politische Gegner, die „Pro-Choicer“, von den Ereignissen der letzten Tage einschüchtern lassen. Die Diskussion um Spätabtreibungen in den USA muss weitergeführt werden. Der Mord an George Tiller könnte im schlimmsten Fall dafür sorgen, dass Abtreibungsbefürworter aus Angst vor Gewalt verstummen und Abtreibungsgegner ihre Meinung verschweigen, weil sie nicht mit Militanten in einen Topf geworfen werden wollen. Eine Diskussion aber, die verstummt, bedeutet Stillstand. Und den können die Abtreibungsgegner in den USA, einem Land, in dem Spätabtreibungen in bestimmten Fällen nach wie vor geduldet sind, am wenigsten gebrauchen. (PRO)

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