Abtreibung ist ein Tabu. Viele Frauen leiden darunter, nicht über die psychischen Folgen sprechen zu können. Im Rahmen eines Themenabends zeigt Arte am Dienstag eine Dokumentation mit unerwarteten Zwischentönen. Eine TV-Kritik von Sebastian Schramm
Von PRO
Foto: WDR/ARTE
Nicht wenige Frauen leiden nach einer Abtreibung unter seelischen Folgeschäden. Und auch darunter, mit niemandem darüber sprechen zu können
Schätzungen zufolge hat jede fünfte Frau einmal in ihrem Leben abgetrieben, stellt der Dokumentarfilm „Tabu Abtreibung. Warum länger schweigen?“ von Renate Günther-Greene fest. Nur die wenigsten bekennen sich offen dazu. Verlust, Schuldgefühle und Bestrafungsängste, sogar posttraumatische Belastungsstörungen, sind oft die Folge des Eingriffs. Über diese Nöte aber werde nicht gesprochen, beklagt Günther-Greene. „Reden wir heute nicht darüber, um nicht vor den Karren der Lebensschützer gespannt zu werden?“, fragt sie im Film.
Eine solche Tabuisierung hat Günther-Greene selbst erlebt: „Auch ich habe abgetrieben“, sagte sie. 40 Jahre danach seien die Erinnerung daran, und mit ihr Schmerz- und Schuldgefühle, plötzlich „wie ein Bumerang“ zurückgekehrt. Um ihre eigenen Emotionen besser verstehen zu können, sprach die Filmemacherin mit 36 betroffenen Frauen und Experten über Symptome wie Angsterkrankungen und Depressionen, die nach einem solchen Eingriff auftreten können.
Nicht nur ein „Zellklumpen“
Am Dienstagabend um 22.45 Uhr strahlt Arte die Dokumentation aus, in der vier Frauen und zwei Experten vor der Kamera zu Wort kommen. Claudia und Rikke, die beide noch minderjährig waren, als sie abtrieben, wünschen sich, die Abtreibung rückgängig machen zu können. Ihnen habe es an Informationen gefehlt. Freunde und Ärzte hätten sie schlecht beraten. Nach der Abtreibung sei ihnen klar gewesen, dass es nicht nur ein „Zellklumpen“ war, der aus ihnen entfernt wurde, wie die Ärzte zuvor gesagt hatten. Beide fühlen sich schuldig und verantwortlich für den Tod eines Menschen. Rikke und Claudia wissen, „dass es dafür keine Wiedergutmachung gibt“.
Eine falsche Verharmlosung durch Ärzte kritisiert der Ethik- und Moralwissenschaftler Nikolaus Knoeppfler im Film. Das ungeborene Kind habe in den Augen der Mediziner meist nicht denselben „moralischen Wert“ wie ein lebendes. Es herrsche die Idee vor: „Das, was ich hier töte, ist noch kein Mensch wie du und ich.“ Knoeppfler kann sich nicht erklären, warum manche Gesellschaften derartige Verharmlosungen zulassen.
Nach Abtreibung gefangen in „Käfig aus Schuld und Scham“
Für Antje dagegen ist eine Schwangerschaft lediglich eine „Option auf Leben“. Sie hat bereits mehrere Abtreibungen durchführen lassen und kommt nach eigener Aussage damit gut zurecht. Trotzdem findet sie „Rituale zum Abschluss“ wichtig, um psychischen Folgeschäden vorzubeugen. Etwa zwei bis vier von zehn Frauen litten nach einer Abtreibung an behandlungsbedürftigen seelischen Folgeschäden wie Depressionen oder Angstzuständen, erklärt die Psychotherapeutin Angelika Pokropp-Hippen im Film. Sie behandelt Frauen nach einer Abtreibung oder Fehlgeburt. Viele Patientinnen fühlten sich gefangen in einem „Käfig aus Schuld und Scham“.
Und dann ist da noch das Schicksal jener jungen Frau, die als eine von Zwillingen eine Abtreibung in der zwölften Schwangerschaftswoche überlebt hat. Sie beschreibt, wie sie in ihrer Kindheit und Jugend eine tiefe Sehnsucht nach einer Zwillingsschwester verspürt habe. Erst mit 18 Jahren erzählte ihr die Mutter von der Abtreibung.
Mit dem Film zeichnet Günther-Greene ein facettenreiches Bild der Problematik. Und das, obwohl sie selbst eine Befürworterin des Rechtes auf Abtreibung war. Auf diesem Wege, so hoffte sie, sollten „Heimlichkeit und Kurpfuscherei“ verhindert werden. Die Filmemacherin ist Anfang des Jahres verstorben, berichtet ihre Tochter Lee Greene gegenüber pro. Mit dem Film habe ihre Mutter „individuelle Geschichten“ erzählen und damit Zwischentöne jenseits des Schwarz und Weiß der Abtreibungsdebatte zeigen wollen.
Ein Film gegen Abtreibung?
Für einen Film von Abtreibungsbefürwortern bekommen die Gegner in „Tabu Abtreibung“ unerwartet viel Raum. Allein die Tatsache, dass die Psychotherapeutin Pokropp-Hippen zu Wort kommt, die auch auf dem Gebiet des Post-Abortion-Syndroms forscht, habe im Vorfeld zu heftigen Reaktionen der Abtreibungsbefürworter geführt, verrät Lee Greene. Besonders bewegend ist die Geschichte von Rikke. Unter Tränen beschreibt sie das „unerträgliche Gefühl“ von Schuld und Trauer. Sie beklagt, dass sie niemand darüber beraten habe, was eine Abtreibung in ihr selbst auslösen kann. Niemand habe sie „auf den seelischen Schmerz, der physisch zu spüren war“ vorbereitet. Diese emotionale Schilderung dürfte auch den Hartgesottensten berühren.
Mit der Dokumentation wollen die Macher eine Diskussion anstoßen, die es Frauen ermöglicht, ihre Gefühle nach einer Abtreibung mitzuteilen. Ihnen geht es um mehr Beratung und eine bessere Begleitung. Der Film soll zur Aufklärung beitragen. Greene will den „Automatismus“ durchbrechen, nach dem eine ungewollte Schwangerschaft „die Zukunft versaut“.
Im Rahmen des Themenabends am Dienstag strahlt Arte vor „Tabu Abtreibung“ zudem die Dokumentation „Abtreibung – ein Menschenrecht“ aus, die sich mit der Lebenswirklichkeit von Frauen hinsichtlich unterschiedlicher Abtreibungsgesetze in Deutschland, Frankreich und Polen auseinandersetzt. Erst vergangenen Dienstag hatte das EU-Parlament den so genannten Tarabella-Bericht verabschiedet, nach dem „sexuelle und reproduktive Rechte grundlegende Menschenrechte“ sind. Kritiker sehen darin die Verankerung eines Rechts auf Abtreibung als Menschenrecht. (pro)
„Tabu Abtreibung. Warum länger schweigen?“, 51 Minuten, Arte, 17. März 2015, 22.45 Uhr
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