„Abtreibung ist für US-Evangelikale nicht wahlentscheidend“

Weiße Evangelikale gelten als Trump-Unterstützer. Doch noch vor rund zehn Jahren prägte die US-Kulturwissenschaftlerin Marcia Pally den Begriff „Neue Evangelikale“ und prognostizierte: Die Frommen rücken nach links. Was ist daraus geworden?
Von Anna Lutz

PRO: Frau Pally, vor etwas mehr als zehn Jahren haben Sie ein Buch über „Neue Evangelikale“ geschrieben. Sie meinten damit eine Bewegung innerhalb der evangelikalen US-Kultur, die nach links rückt, sich mehr für soziale Ziele einsetzt und die Demokraten wählt. Wo sind diese „Neuen Evangelikalen“ geblieben?

Marcia Pally: Sie sind noch da. Und sie haben lebendige Organisationen gegründet, etwa die „Evangelikalen für Demokratie“ in den USA. Das ist nur eine von vielen Gruppen, die sich gegen Populismus und die Verbindung vieler amerikanischer rechtsgerichteter Christen zu rechter Politik stark macht. Die „Neuen Evangelikalen“ sind weiterhin eine Minderheit unter weißen Christen. Aber sie sind heute besser organisiert als je zuvor.

Sie mögen noch da sein, aber in den Nachrichten lesen wir eigentlich nur von Evangelikalen, die Donald Trump wählen. Im Jahr 2012 haben Sie das Gegenteil prognostiziert.

Wir haben in den letzten Jahren eine zunehmende Polarisierung in den USA, aber auch innerhalb der evangelikalen Bewegung gesehen. Das war noch nicht der Fall, als ich vor mehr als zehn Jahren zu dem Thema geforscht habe.

Dennoch: Obwohl sich auch heute viele Evangelikale sicher nicht als links bezeichnen würden, setzen sich immer mehr für soziale Gerechtigkeit ein. Zugleich hat aber auch die Zahl rechtspopulistischer Unterstützer im evangelikalen Spektrum zugenommen. „Neue Evangelikale“ sind klar in der Minderheit, aber laut und stark.

Trump vor der St. John's Episcopal Church während der Black-Lives-Matter-Proteste Foto: The White House
Donald Trump könnte 2024 wieder für das Amt des US-Präsidenten kandidieren

Woher kommt diese Polarisierung?

Ich glaube nicht, dass für Evangelikale etwas anderes gilt als für den Rest der US-Gesellschaft. Sie alle haben in den vergangenen Jahrzehnten dasselbe erlebt: zunehmender Druck und damit einhergehend mehr Zwänge. Wirtschaftlich, aber auch gesellschaftlich, etwa durch Veränderungen von Geschlechterbildern, durch neue Technologien oder Multikulturalismus. Solcher Druck lässt Populismus erfolgreicher werden.

Für Evangelikale im Besonderen gilt, dass ihre Zahl sinkt. Sie machten vor 20 Jahren noch ein Fünftel der Bevölkerung aus, heute sind sie noch ein Sechstel. Sie werden immer älter. Ihre einst vorhandene kulturelle Dominanz schwindet. Deshalb stehen sie in besonderem Maße unter Druck und sind anfällig für Populismus.

Evangelikale in den USA haben Trump gewählt, weil sie gegen die Abschaffung der Abtreibungsgesetze waren.

Falsch. Wenn Sie Evangelikale in den USA nach ihren wichtigsten wahlentscheidenden Faktoren fragen, dann kommt da zwar auch das Abtreibungsrecht vor. An erster Stelle steht aber in den letzten Jahren die Wirtschaft. Abtreibung und auch LGBTQ-Rechte kommen im Ranking erst viel weiter hinten.

Der Grund dafür, dass sie Trump unterstützt haben, war ein anderer: So wie der Rest der Gesellschaft, haben Evangelikale sich unter Bedrohung Feindbilder gesucht. Das ist ein ganz normaler psychologischer Vorgang. Wer unter Druck steht, sucht sich jemanden, dem er die Schuld dafür geben kann. In den USA sind diese Feindbilder traditionell zum einen Migranten und andere Minderheiten wie Schwarze. Und es zum anderen ist es der Staat selbst.

Unser Land wurde geboren aus einem Misstrauen gegenüber staatlichen Systemen. Die Kolonialisten kamen nach Amerika, weil sie ihre Regierung in Europa – und auch die staatlichen Kirchen übrigens – kritisch sahen. Dieses Misstrauen ist geblieben. Und es kann sehr gesund für eine Demokratie sein. Aber es kann auch Populisten wie Donald Trump in die Hände spielen. Es hat ihm geholfen, gegen etablierte demokratische Kräfte aufzubegehren, indem er dieses Misstrauen bewusst schürt – sei es gegen den Staat oder Migranten. In der Tat ist er sehr gut darin, auf diese Art Unterstützer für seine Ziele zu gewinnen.

2016 haben 77 Prozent der weißen Evangelikalen Trump gewählt, 2020 waren es sogar 84 Prozent. Die Zahlen sind höher als in der Durchschnittsbevölkerung. Was macht ihn für Evangelikale so besonders attraktiv?

Evangelikale sind in besonderem Maße skeptisch gegenüber dem Staat, denn das sagt ihre Bibel: Gottes Reich ist nicht von dieser Welt. Menschliche Regierungen sind fehlbar. Jeder Mensch muss selbst zu der Erkenntnis Gottes kommen, das kann keine Kirche für ihn übernehmen, also auch keine höhere Autorität etwa.

Es gibt also eine gewisse Grundskepsis gegenüber Autoritäten wie Kirchen und eben auch der Regierung. Wenn man so will, stehen sie also in doppeltem Sinne in der Gefahr, von Populisten verführt zu werden. Das ist übrigens auch der Grund dafür, dass Evangelikale in Deutschland anders mit Populismus umgehen: Unsere Kultur und unsere Geschichte unterscheiden uns.

Und doch wollen auch amerikanische Evangelikale nach den biblischen Geboten leben. Und die besagen: Du sollst nicht lügen. Du sollst nicht die Ehe brechen. Dinge, gegen die Trump verstoßen hat. Spielt das keine Rolle für fromme Christen?

Wir alle passen doch die Realität an unser Glaubenssystem an. Evangelikale wählen, an was sie glauben. Und sind bereit dazu, Trumps Missstände auszublenden. Sie glauben, Trump schütze sie vor dem Staat, vor der säkularen Gesellschaft, vor Migranten. Also sagen sie: Gottes Wege sind unergründlich, und verweisen auf andere fehlbare Machthaber, die in Gottes Sinn gehandelt haben, etwa den biblischen König David.

Trump-Anhänger stürmten am 6. Januar 2020 das Kapitol in Washington. Einige von ihnen rechtfertigten ihre Taten mit dem christlichen Glauben. Foto: Blink O'fanaye, flickr | CC BY-NC 2.0 Generic
Trump-Anhänger stürmten am 6. Januar 2021 das Kapitol in Washington. Einige von ihnen rechtfertigten ihre Taten mit dem christlichen Glauben.

Das erklärt noch nicht die Ausschreitungen im Januar 2021, als Kritiker der Biden-Wahl das Kapitol stürmten – unter ihnen auch Evangelikale.

Da waren viele Leute involviert: Rechte, Nichtreligiöse, Katholiken, Evangelikale und so weiter. Innerhalb der religiösen Rechten finden sich heute übrigens auch viele Nichtevangelikale. Sogar viele, die gar keine religiöse Praxis haben. Es gab bei diesem Aufstand Menschen, die Schilder mit der Aufschrift „Jesus für Trump“ hochhielten, obwohl sie nur eine sehr minimale Berührungsfläche mit der Kirche haben.

Ansonsten bleibt es dabei: Je frustrierter die Menschen aufgrund von Zwängen und Druck sind, desto eher suchen sie sich die bekannten Feindbilder und begehren auf. Wenn die Wut sich dann noch aufgestaut hat, weil Trump gerade die Wahl verloren und zudem erklärt hat, sie sei ihm gestohlen worden, dann kann man sich sehr leicht vorstellen, dass auch Evangelikale sich an einer Kapitolstürmung beteiligen.

2020 zeigte sich so etwas wie eine Spiritualisierung des Wahlkampfs. Trump betete mit evangelikalen Pastoren diverser großer Kirchen. Seine Beraterin Paula White hatte einen denkwürdigen Auftritt, als sie stundenlang geradezu pfingstcharismatisch für Trump betete. Warum war der religiöse Auftritt für Trump so wichtig?

Zunächst einmal ist das für Amerika nicht ganz ungewöhnlich. Spiritualität war schon immer ein prominenter Teil der US-Kultur. Alle Kandidaten bei einer Wahl besuchen Kirchen und Pastoren. Aber es stimmt: Trump hat das in besonderer Weise getan. Und das gehört zu seiner Strategie. So wie er die Menschen dazu animieren konnte, sich gegen den Staat zu wenden und Migranten abzulehnen, war er auch in der Lage, die religiösen Gemeinschaften und viele andere Amerikaner zu beeinflussen.

Er hat dazu die Skepsis innerhalb der religiösen, aber auch der nichtreligiösen Bevölkerung gegenüber dem Staat und Minderheiten genutzt. Er hat Ängste vor einem starken Staat und Multikulturalismus verstärkt. So hat er Evangelikale angezogen und das noch durch religiöse Auftritte verstärkt. Es war sein Weg, Evangelikale noch stärker in seinen Bann zu ziehen.

Hat er mit diesen Auftritten nicht auch Menschen abgestoßen? Besonders die wachsende Zahl Nichtreligiöser?

Durchaus. Das wird sich wohl auch in der kommenden Wahl zeigen. Jene Wähler, die ihm nicht fest zugeneigt sind, werden sich vielleicht auch aus diesem Grund abwenden. Wenn sein Narzissmus, sein Sexismus, seine Gesetzesbrüche nicht schon dafür sorgen. Andererseits sagte er jüngst bei einer Wahlveranstaltung in Texas zu seinen Unterstützern: „Ich bin euer Retter!“ Und wurde von seinen Anhängern dafür gefeiert. Dabei ist das ein biblischer Begriff, der eigentlich Jesus zusteht. Dennoch: Viele Evangelikale sind nach wie vor der Meinung, dass Trump derjenige ist, der für ihre Anliegen kämpft. 

Welche Rolle spielen „Neue Evangelikale“ bei der kommenden Wahl?

Es gibt evangelikale Bewegungen, die die politische Rechte offen bekämpfen. Sie veröffentlichen Podcasts, Artikel und Bücher, sind also sehr präsent. Da gibt es etwa eine mit dem Namen „Nicht unser Glaube“ („Not our Faith“), was sich auf Donald Trumps Missbrauch religiöser Motive bezieht. Oder die „Evangelikalen Lebensschützer für Joe Biden“ („Pro-Life-Evangelicals for Joe Biden“), gegründet von der Enkelin des Evangelisten Billy Graham. Sie beruft sich darauf, dass Trumps Politik Abtreibungen nicht reduziert, weil sie soziale Ungleichheit nicht bekämpft.

Ich glaube, dass diese Bewegungen eine wichtige Rolle haben: Sie zeigen der amerikanischen Bevölkerung und auch ihren eigenen Familien und Freunden, dass es durchaus viele weiße Evangelikale gibt, die Trump nicht unterstützen. Und die öffentlich sagen: Was Trump tut, hat nichts mit unserem Glauben zu tun.

Frau Pally, vielen Dank für das Gespräch!

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