Deutscher Schulpreis 2011: Wenn Noten egal sind



Das Konzept wurde zu Beginn kritisch beäugt: Jetzt hat eine Göttinger Gesamtschule den Deutschen Schulpreis 2011 erhalten. Die Lichtenberg-Gesamtschule (IGS) verzichtet bis zur zehnten Klasse darauf, die Schüler nach Leistung zu trennen.


Von PRO

Außerdem sind Noten bis zum Ende der achten Schuljahr tabu. Für Beides ist in Deutschland eine Ausnahmegenehmigung der Kultusministerkonferenz notwendig. Sie wurde bisher deutschlandweit nur fünf Schulen gewährt. Den mit 100.000 Euro dotierten Preis erhielt die Schule in Berlin aus den Händen von Bundespräsident Christian Wulff. Das ist deswegen pikant, weil Christian Wulff als damaliger niedersächsischer Ministerpräsident die Schule in ihrem Werden nicht unbedingt unterstützte.



Immer ein Starker neben einem Schwachen



"In Göttingen wurde die Schule, auf die immerhin 1500 Schüler gehen, von Anfang an als Ensemble von überschaubaren kleinen Schulen in einer großen konzipiert", charakterisiert ein Beitrag in der aktuellen "Zeit" die Schule. Das heißt seit 1975 "Team-Kleingruppen-Modell". In der Praxis bedeutet dies sechs Klassen, die um einen Innenraum gebaut sind, werden von einem Lehrerteam betreut, das nur dort unterrichtet und Stundenplan, Tagesablauf und vieles andere selbst organisiert.



Der Unterrichtet läuft in "Tischgruppen" ab, an denen Haupt- und Realschüler neben Gymnasiasten sitzen. Das Konzept führt dazu, dass viele Schüler miteinander zu tun haben, die sonst eigentlich keine Berührungspunkte hätten. Davon profitieren die Schwächeren und die Stärkeren. Die Tischgruppe ist die Seele der Schule. Jede Tischgruppe trifft sich seit 1979 mit Eltern und Lehrern viermal im Jahr jeweils bei einem anderen Schüler zu Hause, der Gastgeber des Abends ist. Eine Investition an Zeit, über die sich Lehrer nicht beklagen.



"Hier wird hirngerecht gelernt"



"Die Wirtschaft braucht in Zukunft Mitarbeiter, die teamfähig sind und Probleme lösen können. Das lernen die Schüler an der IGS in den heterogenen Tischgruppen. Hier wird hirngerecht gelernt", ist sich der Hirnforscher Gerald Hüther, der im Wochenmagazin "Stern" zu Wort kommt, sicher. Wenn die Erfahrungen mit Verantwortung, gegenseitiger Hilfe und Lernfreude gemacht werden, dann, so Hüther, sei das Bildung. Die Lehrerin Karola Hagedorn stimmt dem uneingeschränkt zu: "Nichts ist schlimmer, als wenn in einer Klasse fünf arbeiten und die übrigen 25 schlafen." Bis in die Schulmensa hinein ist das Personal in Teams organisiert.



Laut "Zeit" ist keine Schule bekannt, an der so viele Lehrer den Antrag stellen, nicht schon mit 65 pensioniert zu werden. Ein Erfolgsgeheimnis für die Schüler sei es, dass an ihrer Schule die Notenvergabe eine so geringe Rolle spiele. Nur ein Prozent der Schüler verlasse die Schule ohne Abschluss. Alle paar Wochen wechselt das Klassenzimmer in ein anderes Elternhaus. So sieht es das Konzept vor:

Nationale Bildungsexperten wie Hans Anand Pant, dessen Institut an der Qualitätsentwicklung im Bildungswesen arbeitet, sind begeistert: "So einen Unterricht habe ich noch nicht erlebt", lobt Pant im "Stern". Ihn beeindruckt vor allem wie routiniert alle Schüler in der freien Rede sind.



Ansporn zu Höchstleistungen



Das Konzept der Schule spornt offenbar zu Höchstleistungen an: 2010 kam die beste Abiturientin des Landes Niedersachsen mit einem Notenschnitt von 0,7 von der IGS. Nach einem Abitur-Ranking stand die Reformschule auf Platz zwei im Bundesland, also (fast) vor allen Gymnasien. Interessant ist, dass jeder vierte Abiturient zunächst für den Hauptschulzweig empfohlen war. Und auch die Rufe vieler konservativer Göttinger Kreise über die IGS als "Idioten Gesamtschule" sind lange verhallt.



Die Göttinger Schule hat sich bei der Preisvergabe gegen 119 weitere Mitbewerber durchgesetzt. 20 von ihnen hatte die Jury, bestehend aus 14 Wissenschaftlern, zwei Tage lang genauer inspiziert. Bewertungskriterien waren Leistung, Schulklima, Verantwortung, Unterrichtsqualität, Umgang mit Vielfalt und Schulentwicklung. Das Preisgeld wird von der "Robert Bosch Stiftung" und der von der Familie Bosch getragene Heidehofstiftung zur Verfügung gestellt.



Weitere Bewerber waren die Marktschule in Bremerhaven, die sich in jahrgangsübergreifenden Klassenfamilien organisiert haben und das Gymnasium im bayerischen Karlstadt, das seine Gestaltung weitgehend in die Hände von Arbeitskreisen, bestehend aus Eltern, Lehrern und Schülern, gegeben hat. Alle Konzepte, so der "Zeit"-Beitrag würden lediglich eine Binsenweisheit der Organisationspsychologen umsetzen, dass eine gute Atmosphäre zu besseren Leistungen führt. (pro)

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