Es wiederholt sich das immer gleiche Muster: Der Bundeskanzler spricht einen öffentlichen Satz, der zumindest Fragen offen lässt. Die Opposition interpretiert den Satz auf die bösestmögliche Weise. Medien berichten über gekränkte Betroffene. Merz lässt die Debatte laufen, statt Irritationen auszuräumen.
Niemand aus den eigenen Reihen springt ihm sofort zur Seite, stattdessen geben innerparteiliche Gegner zu Protokoll, auch sie hätten Fragen. Irgendwann schiebt der Kanzler eine Klärung nach, die bei seinen Kritikern aber verpufft. Am Ende ist das von Merz angesprochene Problem genauso groß wie vorher, Lösung nicht in Sicht.
„Paschas“, Flüchtlinge, die Zahnarzttermine wegschnappen, „links ist vorbei!“ (kurz vor Regierungsstart mit der SPD), Brandmauer-Verwirrung, „Stadtbild“, Rentenstreit: Alle diese Debatten haben zudem gemein, dass Merz sie gar nicht anstoßen wollte. Ein nicht nur rhetorisch, sondern auch strategisch begabter Spitzenpolitiker spitzt zu, um damit ein langfristiges Ziel zu erreichen. Merz wirkt hingegen regelmäßig überrascht von der Wirkung seiner Worte.
Keine der Possen taugt für den großen Skandal
Jüngst zitierte er aus einem (per se vertraulichen!) Hintergrundgespräch in Brasilien. In Belém läuft aktuell die Weltklimakonferenz. Einem Ort, der wegen seiner durch den Klimawandel und Abholzung bedrohten Zukunft absichtlich gewählt worden war. Da fragte er die anwesenden Journalisten laut einer „Stern“-Reporterin: „Sind Sie hier mal rumgefahren? Und – würde jemand hier bleiben wollen?“
Er wollte damit dem Vernehmen nach sagen, dass es sich in Deutschland im internationalen Vergleich gut leben lasse. Für die Brasilianer natürlich trotzdem ein Affront. Keine der Merzschen Possen taugen für den großen Skandal, und seine Gegner wären gut beraten, nicht in jeden seiner Sätze den Untergang der Demokratie hineinzulesen. Dennoch ist nach einem halben Jahr Regierungszeit klar: Merz hat seine Zunge nicht im Zaum.
Diese Redewendung kommt übrigens aus der Bibel. Jakobus warnt im dritten Kapitel seines Briefes vor der „Macht der Zunge“, griechisch „glóssa“, was auch „Sprache“ bedeutet. Jakobus vergleicht sie mit dem Zaumzeug, mit dem der Reiter sein Pferd in jede Richtung lenken kann, mit dem kleinen Ruder, das die Route eines Schiffs bestimmt: „So ist auch die Zunge ein kleines Glied und rechnet sich große Dinge zu. Siehe, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet’s an!“
Bröselnde Republik auf Vordermann bringen
Unbedachte Worte von Friedrich Merz haben schon so manches Feuerchen entzündet. Seine Gegner begossen es mit Öl und die Medien lieferten den nötigen Sauerstoff, während sich kaum jemand traute, beherzt zum Feuerlöscher zu greifen. So kann es nicht weitergehen. Die beste Brandmauer der Welt nützt nichts, wenn man das eigene Haus von innen abfackelt.
Statt heiße Luft zu produzieren, sollten die Lenker dieses Landes endlich beginnen, ihre Energie in echte Reformen zu investieren, um die krankende und bröselnde Republik wieder auf Vordermann zu bringen. Beginnen muss damit der Kanzler. Auch damit kann er sich auf den Jakobus-Brief berufen, diesmal auf das erste Kapitel: „Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein; sonst betrügt ihr euch selbst.“