Während ich diesen Text schreibe, steht der öffentlich-rechtliche Rundfunk in den Schlagzeilen – mal wieder. Der NDR hat sich von einer Moderatorin getrennt, weil sie ihm zu konservativ war. Und Kulturstaatsminister Weimer wird dazu zitiert, die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks werde als politisch einseitig wahrgenommen.
Ich stimme zu. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und ich, wir haben uns auseinandergelebt. Dabei begann der gemeinsame Weg vor über 40 Jahren fröhlich und dankbar. Nur wenige Kilometer hinter dem Eisernen Vorhang auf der Ostseite Deutschlands aufgewachsen, prägten ARD, ZDF und Bayerischer Rundfunk meine Teenager-Zeit und meine beiden ersten Jahrzehnte im wiedervereinigten Deutschland.
Die BR3-Radioshow mit Thomas Gottschalk und Günther Jauch oder Sendungen wie „Live aus dem Schlachthof“ zogen mich während der 1980er hinein in das Lebensgefühl der Westjugend. „Heute-Journal“ und „Tagesthemen“, „Weltspiegel“ und „Auslandsjournal“ halfen mir, das Politik-Geschehen zuhause und rund um den Globus einzuordnen. Sie ermöglichten es allen Ostdeutschen, die ideologieverzerrte Lebenswelt durch einen Fakten-Filter zu betrachten. Und wer die Spots aus dem Werbefernsehen mit der Konsum-Trostlosigkeit zwischen Ostsee und Erzgebirge verglich, dem war klar: Der Siegeszug des Sozialismus existierte nur in den Köpfen der Herren aus dem Politbüro.
Dass wir 35 Jahre deutsche Wiedervereinigung feiern können, ist nicht zuletzt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu verdanken. Formate wie „Kontraste“ oder das „ZDF-Magazin“ sendeten viele Jahre das wahre Gesicht der „Diktatur des Proletariats“, legten den Finger in die vielen Wunden der im Osten herrschenden Unfreiheit. Schließlich brachten Reporter und Kommentatoren der öffentlich-rechtlichen Medien via Bildschirm die friedliche Revolution in die Wohnzimmer der DDR. Die heimlich gefilmten Aufnahmen der über 70.000 Demonstranten auf dem Leipziger Innenstadt-Ring am 9. Oktober 1989, die das Erste tags darauf sendete, machten mir damals 20-Jährigem sowie allen anderen 17 Millionen DDR-Bürgern klar: Das SED-Regime „hatte fertig“.
Es galt: Berichtet wird neutral
Die Mauer fiel, „The Wind of Change“ wehte durch den zu Ende gehenden Arbeiter- und Bauernstaat – und ich wurde Journalist. Begann als Volontär bei der Zeitungsneugründung eines bayerischen Verlags in meiner thüringischen Heimat. Wenn ich zu einseitig auf der Seite des Wandels stand, erinnerten mich die Kollegen in der Redaktion an die journalistische Grundregel: Es werden alle Seiten gehört. Und meine Ausbilder bei der Akademie der Bayerischen Presse machten mir klar: Journalismus in der Demokratie will Vierte Gewalt sein, unparteiisch zu jeder Seite, der Wahrheit und Objektivität verpflichtet und keiner Idee oder Sache.
Natürlich bemerkte ich die unterschiedliche politische Färbung der Sendeanstalten. Dass NDR und WDR, BR oder Radio Bremen, HR oder SWR im Politik-Spektrum um Nuancen etwas mehr rechts oder links auftraten. Doch alles in allem galt weiter: Berichtet wird neutral, Meinung muss gekennzeichnet sein. Die Gewichte von Schwarz und Rot in den Redaktionen und Intendanten-Etagen waren ausbalanciert.
Dass sich Deutschland einen der teuersten öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Welt leistet – nur die Schweiz und Österreich sind teurer – ist eher ein Randaspekt. ARD, ZDF und Deutschlandfunk verfügen dank Rundfunkbeitrag über jährliche Einnahmen von rund 9 Milliarden Euro. Ein Betrag, der mehr als dem Doppelten des Haushalts der Vereinten Nationen entspricht. Doch erstens fällt die Beitragsentwicklung zwischen 1990 und heute gemessen an der allgemeinen Preissteigerung unterdurchschnittlich aus. Und zweitens war die Kritik an der Finanzausstattung des Rundfunks früher leiser, wohl auch deshalb, weil man mit der gelieferten Leistung zufriedener war.
Freiheit bewahren
Leider hat all die Reminiszenz nichts mehr mit der Gegenwart zu tun. Aktuell wird Kritik lauter, es gehe dem ÖRR bei der Erfüllung seines Informationsauftrags eher um betreutes Denken als um objektive Berichterstattung. In einer Umfrage, welchen Institutionen die Bürger vertrauen, antworten in diesem September lediglich 31 Prozent, sie würden dem öffentlich-rechtlichen Medien vertrauen. Gerade im Osten hört man das Sprachbild „DDR-Funk 2.0“ immer öfter, wenn nach der Meinung zu ARD, ZDF und Co. gefragt wird.
Ein gewisser Hang zur Weltverbesserung und damit ideellem Überschwang steckt in jedem Journalisten. Das ist auch in Ordnung, solange dies eingehegt wird durch klare Berufsregeln: Objektivität sowie Trennung von Meinung und Information. Den Kipppunkt weg von diesem Rahmen verorte ich Ende der 2000er Jahre, als zunächst unmerklich, doch dann immer klarer die Distanz zwischen Medien und Politik dahinschmolz. Einer der Gründe war sicher nicht zuletzt ein zunehmendes Unsicherheitsgefühl, Resultat der dichten Abfolge immer neuer Krisen:
Bankenkrise, Fukushima, Euro-Krise, Abgasskandal, Migrationskrise und schließlich Covid-19 ließen bei den Bürgern – und anscheinend auch Journalisten – die Sehnsucht wachsen, die politisch Verantwortlichen mögen doch bitte alles zum Guten wenden. Das Ergebnis war und ist ein Journalismus, der teilweise professionelle Skepsis eintauscht gegen eine symbiotische Beziehung zu postulierter Alternativlosigkeit politischer Maßnahmen.
Aber: Problemsucher gibt es genug. Lösungsfinder sind gefragt. Dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk auf eine Reform zusteuert, ist unstrittig. Vorschläge kommen aus den eigenen Reihen und aus der Politik. Solches Reformieren von Strukturen, Geld und Aufsichtsgremien wird jedoch nicht fruchten, wenn ein wichtiger, zudem ur-christlicher Wert im Journalismus nicht wieder Eingang findet. Es ist derselbe Wert, der vor 35 Jahren den Eisernen Vorhang zum Einsturz gebracht hat: Freiheit. Er wird nur ermöglicht, wenn die vielschichtigen Perspektiven und Meinungen einer Demokratie alle zusammengetragen werden und – das ist legitim – für die eigene Sicht argumentiert wird, ohne aber andere Positionen abzuwerten. Die Bewertung, welche Argumentation letztlich überzeugt, liegt allein in der Freiheit des Zuschauers, Hörers und Lesers. Ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk, der diese Freiheit lebt und bewahrt, hat Zukunft.
Dr. Alexander Schumann, Jahrgang 1969, Journalist und Ökonom, heute Chef-Volkswirt des Ostdeutschen Bankenverbandes. Er lebt mit seiner Familie in Leipzig.