In der aktuellen Ausgabe des Magazin „Cicero“ schreibt der katholische Intellektuelle Manfred Lütz, die Debatte um Abtreibung und Sterbehilfe sei zu einem „Kulturkampf“ geworden. „Beide Seiten liefern vernünftige Argumente – eine Pattsituation.“
Das Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 habe zwar einen scheinbar unlösbaren gesellschaftlichen Konflikt befriedet, sei aber „unlogisch“, schreibt Lütz in seiner Kolumne. Die Richter postulierten zwar die Menschenwürde auch für das ungeborene Leben und erklärten deswegen Abtreibung in den ersten drei Monaten für rechtswidrig; andererseits stellten sie Abtreibung straffrei. „Da nach juristischer Dogmatik die Menschenwürde aber absolut gilt und nicht abwägungsfähig ist, etwa gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau, lag hier im Grunde ein logischer Fehler vor.“
Die Kommission der Ampelkoalition, der Frau Brosius-Gersdorf als stellvertretende Koordinatorin angehörte und die empfahl, die gesetzliche Abtreibungsregelung logisch zu machen und Abtreibungen als nicht bloß straffrei, habe die Widersprüche des Verfassungsgerichtsurteils „endlich auflösen“ wollen.
„Man darf es sich bei diesem Thema nicht zu einfach machen“
Es gebe wohl kein Thema, das so emotionsgeladen sei wie dieses, daher sei zu befürchten, dass das Thema von einigen Parlamentariern aus politischer Arglosigkeit heraus noch einmal auf die Tagesordnung gesetzt werden könnte, so Lütz. Doch: „Man darf es sich bei diesem Thema nicht zu einfach machen. Es sind nicht bloß irgendwelche skurrilen amerikanischen Fundamentalisten, um die es hier geht, die betend oder agitierend vor Abtreibungskliniken stehen. Die Ablehnung von Abtreibungen war von Anfang an ein Unterscheidungsmerkmal des Christentums.“
Der christliche Gedanke von der gleichen Würde jedes Menschen, der ein Ebenbild Gottes ist, sei dem Umfeld der frühen Christen fremd gewesen. Heutzutage sei dank moderner Medizin klar, dass schon in der befruchteten Eizelle potenziell der ganze neue Mensch angelegt ist, „bis hin zur determinierten Nasenform.“ Damit gebe es im Grunde von der Befruchtung der Eizelle bis zum natürlichen Tod eines Menschen aus medizinischer Sicht keinen begründbaren Einschnitt zu irgendeiner Lebensphase. Auch die Grünen teilten de facto diese Auffassung, so Lütz, und stritten zusammen mit den Kirchen für einen Schutz embryonaler Stammzellen.
Nun sei jedoch eine Situation mit vernünftigen Grundüberzeugungen entstanden, die sich „diametral gegenüber“ stünden. „Die einen bezichtigen die anderen, für Kindstötung zu sein, und die anderen die einen, gegen die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Frau einzutreten.“
Die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, eine für beide Seiten annehmbare Regelung zu finden, sei letztlich also unlösbar.
Alarmzeichen: „Drei von vier Evangelikalen wählten Trump“
In den USA sehe man die Spaltung der Gesellschaft in noch extremerer Form. „Fast 50 Jahre lang kämpften christliche Akteure vergeblich. Es war Donald Trump, der letztlich durch die Ernennung entsprechender Richter die Aufhebung dieser Entscheidung bewirkte. Das Ergebnis war, dass 2024 über die Hälfte der Katholiken und drei von vier Evangelikalen Trump wählten – obwohl wohl die meisten genau wussten, dass dieser amoralische Lebemann mit dem Christentum in Wahrheit nicht das Geringste zu tun hat.“
Amerikanische Entwicklungen kämen erfahrungsgemäß zeitverzögert auch bei uns an, so Lütz, daher sollte diese Entwicklung „ein Alarmzeichen für alle sein, denen die Demokratie am Herzen liegt“. Die AfD etwa zeige bereits die „trumpsche Anbiederung an die ‚Lebensschützer‘“ und inszeniere sich bei diesem Thema „als Fels in der Brandung“.
Lütz schreibt weiter: „Zu viele Publizisten und Politiker haben die radikale Zeitenwende in den westlichen Demokratien noch nicht verstanden und arbeiten immer noch mit Vorstellungen von vor mehr als zehn Jahren. (…) Wer dieses Thema aufmacht und als Politiker oder Journalist auch nur am Köcheln hält, treibt sehenden Auges der AfD die Wähler zu, die ihr noch fehlen, um dauerhaft stärkste Partei zu werden.“