Ein gutbürgerliches Wohnviertel, irgendwo in England. Verklinkerte Reihenhäuser, ein paar schicke Villen dazwischen, saubere, leere Straßen. Es ist früh am Morgen, die Schulkinder liegen noch im Bett, während sich die ersten Eltern müde herausgequält haben, um das Frühstück vorzubereiten. Die Stille in den Straßen wird jäh unterbrochen, als fünf Polizeiwagen anrollen und ein schwer bewaffnetes Einsatzkommando ausspucken. Helme auf dem Kopf, die Gesichter vermummt und Präzisionsgewehre in den Händen stürmen Polizisten das Haus der bis dato völlig unscheinbaren Familie Miller.
„Ihr seid im falschen Haus“, ruft der Vater, in Jogginghosen und Shirt auf der Treppe stehend, während die Mutter im gelben Bademantel bereits bäuchlings und mit erhobenen Händen auf dem Boden liegt und schreit. Doch weder Mutter noch Vater sind das Ziel der Polizisten. Sie stürmen in den ersten Stock, umzingeln das Bett des 13-jährigen Sohnes der Familie. Der leitende Beamte baut sich vor ihm auf, während ein Kollege die Waffe auf den Jungen richtet. „Jamie Miller, es ist 6.15 Uhr. Du bist wegen Mordverdachts festgenommen. Du hast das Recht, zu schweigen.“ „Dad, ich hab nichts getan“, brüllt der Teenie mit den Sommersprossen und den kurzen braunen Locken in Richtung des Vaters.
Dann führen die Polizisten ihn ab. „Ich habe nichts getan. Ich habe nichts getan“, sagt er auf der Fahrt ins Revier. Er wird es wiederholen, immer wieder. Gegenüber seinen Eltern. Gegenüber seinem Anwalt. Gegenüber seiner betreuenden Psychiaterin. Als er einen Moment allein mit seinem Vater im Vernehmungszimmer hat, erfolgt dieser Wortwechsel:
„Sieh mich an. Ich frage dich nur einmal, okay? Egal, was passiert ist, was du getan oder nicht getan hast, ich will, dass du mir die Wahrheit sagst. Hast du es getan?“
„Nein.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“
„Ok. Dann wird ja alles wieder gut, oder?“
Doch nichts wird gut, so sehr man sich das beim Blick in die braunen Rehaugen dieses Kindes wünschen mag. Jamie Miller ist ein Mörder. Das beweisen Videos der Tat. Sie zeigen, wie er auf sein Opfer, Katie, einsticht. Immer wieder.
Nur wieso?
Kontinent Internet
Diese Frage stellt die Serie „Adolescence“, zu sehen beim Streaming-Anbieter „Netflix“. Der Vierteiler gehört schon jetzt zu den am meisten gefeierten Produktionen des Jahres 2025. In Großbritannien, Produktionsland von „Adolescence“, ist die Serie sogar in den Unterricht von Sekundarschulen aufgenommen worden – dafür eingesetzt hat sich unter anderem Premierminister Keir Starmer. Gründe für diesen Erfolg gibt es viele und einer liegt in dieser simplen Frage: Wieso? Wie kann ein Junge, der noch nicht einmal die Pubertät überstanden hat, eine gleichaltrige Mitschülerin mit sieben Messerstichen in Brust, Arme, Beine und Rumpf umbringen? „Adolescence“ beruht nicht auf einer wahren Begebenheit und dennoch: Ähnliche Fälle gab es etwa im Jahr 2020 in Liverpool und London. Den beiden Drehbuchautoren Stephen Graham und Jack Thorne dienten diese Verbrechen als Vorlage. Und nur zu gut kann man sich vorstellen, dass auch die Eltern der echten Täter kaum glauben konnten, dass ihre Söhne zu Mördern geworden waren.

Der Psychiater für Kinder und Jugendliche, Dietmar Seehuber, kennt die Serie „Adolescence“. Er weiß: Es ist „nicht ganz unnormal“, dass Kinder sich im Laufe des Erwachsenwerdens von ihren Eltern abgrenzen, zuweilen sogar eine Art Doppelleben führen. Doch eine wesentliche Komponente habe sich in neuerer Zeit für Familien verändert. Kinder nutzen soziale Medien. „Das ist vergleichbar mit der Entdeckung eines neuen Kontinents und dieser Kontinent saugt unsere Kinder auf. Dort erleben sie ganz viel und ganz intensiv.“ Und, so fügt er hinzu, nicht nur Gutes. Pornografie, Verschwörungstheorien, Mobbing, das alles begegne jungen Menschen – oft ohne Filter oder Alterssperre. „In der virtuellen Welt wird nicht selektiert: Welche Themen tun Kindern gut und welche nicht? Es ist ein unbegrenzter Raum.“ Und: „Wir Eltern kennen diese Welt kaum oder gar nicht. Wenn wir da nicht aktiv dranbleiben, dann wissen wir am Ende nichts mehr über unsere Kinder.“
Niemand will dich
Die Ahnungslosigkeit der Eltern und die Untiefen des Netzes zeigt auch die Serie „Adolescence“. Nach und nach setzt sich ein Puzzle aus diversen Problemen zusammen, die Jamie aggressiv werden ließen: Mobbing auf Instagram, verbunden mit einem sexistischen Frauenbild und der Idee, dass echte Männlichkeit sich durch Dominanz offenbart. Jamie, so stellt sich heraus, hat pornografische Bilder in seinem Profil geteilt. Andere haben darunter kommentiert, er sei ein „Incel“. Der Polizist muss sich von seinem Sohn erst einmal darüber aufklären lassen, dass das keineswegs nett gemeint ist. Es steht für „involuntary celibate“, also „unfreiwillig enthaltsam“. Mobbing der feinsten Sorte also: Niemand will dich. Was könnte man einem Teenager schlimmeres sagen?
Die Serie mache deutlich, dass Kinder sich heute oft verhielten wie Erwachsene – aus einem Druck heraus, den die Gesellschaft ihnen auferlege, analysiert Seehuber für PRO. „Dieser Junge ist überformt von Erwachsenenthemen: Was ist ein Mann? Was wollen Frauen? Wie funktioniert Sexualität? Kinder kommen da gar nicht mehr mit.“
Schauspielerisch und filmisch grandios aufgenommen, zeigt sich das in einer späteren Szene der Serie. Jamie ist in einer Einrichtung untergekommen, bevor er schließlich vor Gericht gestellt wird. Eine Jugendpsychiaterin übernimmt seinen Fall, ihre Aufgabe ist es, in einem Gutachten für das Gericht einzuschätzen, ob Jamie psychisch gesund ist und seine Tat und deren Konsequenzen einschätzen kann. Das hat Einfluss auf das Strafmaß. Dazu trifft sie sich immer wieder mit ihm und erlebt einen Jungen, der in der einen Sekunde seinen Kakao mit Marshmallows genießt und in der nächsten hilflos versucht, der Frau, die ihm gegenübersitzt, seine Männlichkeit zu demonstrieren.

Das Gespräch beginnt mit viel Lachen über das Für und Wider von Gurke auf Sandwiches und wie man seinen Großvater oder ein Stück Brot umgangssprachlich nennt. „Sie sind ein Snob“, bewertet Jamie die Sprache seines Gegenübers und lächelt in sich hinein, die Psychiaterin, eine junge Frau mit Bluse, Segelschuhen und geglätteten braunen Haaren, rollt die Augen und lächelt zurück. „Das werde ich nun wohl nicht wieder los.“ Das Gespräch wandelt sich rasant. „Gibt es denn nichts, worin du dich richtig gut findest?“, fragt die Psychiaterin als Jamie von seinen schlechten sportlichen Fähigkeiten erzählt. „Nein, aber das macht nichts“, sagt er noch ruhig. Als sie ihn fragt, ob Mädchen sich zu ihm hingezogen fühlen, sagt er: „Ich bin hässlich.“ Sie fragt: „Wie fühlt sich das an?“ Er: „Müssten Sie jetzt nicht sagen, ich bin nicht hässlich? Sie sagen, ich bin hässlich!“ Die Situation eskaliert. Jamie wirft einen Stuhl durch den Raum, stellt sich vor die Psychiaterin, das Gesicht nah an ihrem. Sie sagt: „Setz dich hin.“ Er beginnt zu brüllen.
So geht es hin und her, so hautnah gefilmt, dass jede Emotion auf der heimischen Couch spürbar ist. Auch das zeichnet diese Serie aus, jede Folge ist ein One-Cut, gedreht also in einem Rutsch und ohne Schnitte. Näher kann man diesem Jungen filmisch kaum kommen, der gefangen ist in zwei Welten: Dem eigenen schlechten Selbstwertgefühl und dem Wunsch, Frauen zu beeindrucken, ja sogar zu dominieren.
„Spielen Sie mit Ihren Kindern, wenn sie klein sind. Räumen Sie ihnen Zeit ein.“
Der Psychiater für Kinder und Jugendliche, Dietmar Seehuber
„Adolescence“ nähert sich Schritt für Schritt einer Erklärung für die Gewalt durch einen Jungen, der viel zu früh versucht, ein Mann zu sein. Psychiater Seehuber erklärt: Der Junge in der Serie sei verletzlich, im Fachjargon vulnerabel, er habe Probleme mit dem Selbstbewusstsein, mit der Realitätswahrnehmung, mit der Impulskontrolle. Bei solchen Kindern könne Social Media Gewalttaten befördern. Mitnichten aber sei das Internet grundsätzlich „zu verteufeln“. Was aber können Eltern tun, damit ihre Kinder eben nicht vulnerabel werden? Die frühe Kindheit sei entscheidend, sagt Seehuber. Im Alter von zwei bis vier Jahren werde jene Bindung aufgebaut, die Kindern den Rest ihres Lebens Sicherheit gebe. „Spielen Sie mit Ihren Kindern, wenn sie klein sind. Räumen Sie ihnen Zeit ein“, sagt Seehuber, nicht ohne zu betonen, dass gerade das heute bei oftmals stark eingebundenen Eltern drohe, zu kurz zu kommen.

So wäre es verkürzt, „Adolescence“ schlicht für eine Serie über die Gefahren des Internets für Kinder zu halten. Ein Motiv, das in der Berichterstattung wenig Beachtung gefunden hat, doch mindestens ebenso eine Rolle spielt, ist die Sprachlosigkeit der Väter. Denn die Serie ist dominiert von vier männlichen Hauptfiguren: Jamie, dessen Vater, dem leitenden Polizisten sowie dessen Sohn. Die Erwachsenen teilen eines: Sie tun sich schwer im Kommunizieren, kennen ihre Kinder offenbar nur oberflächlich. Ist das ein speziell männliches Problem, Herr Seehuber?
„Das gibt es und das hat nichts mit dem Internet zu tun“, sagt der Experte. Schon vor 40 Jahren seien Väter oft nicht zu Familientherapien aufgetaucht „und wenn, dann haben sie gar nicht verstanden, worum es geht“. Das habe mit der Prägung zu tun: Männer lernten das Sprechen über Probleme nicht, es werde zudem als Schwäche verstanden.
Und so lehrt „Adolescence“ auch eine wenig öffentlich diskutierte Wahrheit: Toxische Männlichkeit, so das Schlagwort dieser Tage, kommt nicht einfach aus dem Internet oder wird gespeist durch sexistische Frauenbilder. Sie beginnt da, wo Väter das Sprechen über Gefühle nicht erlernen und ihre Söhne dadurch unbewusst allein lassen mit all den Verwirrungen des Erwachsenwerdens. Die Serie ist ein lauter Ruf nach dem Umsetzen einer allzu simpel klingenden Weisheit: Männer und Jungen, sprecht miteinander!
Dieser Artikel ist zuerst in der Ausgabe 3/2025 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Bestellen Sie PRO kostenlos hier.