PRO: Frau Ogunleye, bei den Olympischen Spielen letztes Jahr in Paris hatte Psalm 20 eine ganz besondere Bedeutung für Sie. Warum?
Yemisi Ogunleye: Ich hatte auf dem Weg zu den Olympischen Spielen so eine Art Vorbereitung mit meiner Kirchengemeinde. Einzelne Leute haben täglich mit mir gebetet. Ein oder zwei Tage vor den Spielen war meine Mama dran. Sie hatte Psalm 20, 6 aufs Herz bekommen. Dort heißt es: „Wenn er dir den Sieg geschenkt hat, werden wir vor Freude jubeln und im Namen unseres Gottes die Fahnen schwingen. Der Herr erfülle alle deine Bitten.“Dieses Bild hatte ich bei den Olympischen Spielen vor Augen, mit dieser Herzenseinstellung bin ich in den Wettkampf gegangen. Ich wusste, ich werde für mich dort einen Berg erklimmen. Sei es durch eine persönliche Weite oder um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dass ich am Ende die Deutschlandfahne schwingen und so den Sieg präsentieren würde, war ganz einzigartig.
Was hat sich seit dem Olympiasieg in Ihrem Leben verändert?
Das Leben außerhalb meiner vier Wände hat sich komplett auf den Kopf gestellt. Viele Türen haben sich geöffnet, viele neue Chancen haben sich ergeben. Aber wenn man plötzlich als Olympiasiegerin so im Rampenlicht steht, ist das erstmal ein überforderndes Gefühl. Darauf kann man sich nicht vorbereiten. Aber da hatte ich Unterstützung in der Familie, die mir den Rücken freigehalten hat. Und auch mein Management hat mir geholfen, Anfragen und Termine zu differenzieren.
Man steht auch ganz anders in der Presse und in den Medien. Die eigene Geschichte wird ganz anders gehört. Das ist eine Bühne, von der ich mir niemals hätte vorstellen können, dass Gott sie mir schenkt. Das ist ein großes Privileg, aber auch eine große Verantwortung.
Im Profisport herrscht sehr viel Leistungsdruck. Wie erleben Sie das?
Ich werde durch die Bundeswehr finanziert. Mein Vertrag läuft einjährig. Ich muss also jedes Jahr aufs Neue Leistung bringen, um diese Verträge und die Sponsoren zu behalten. Sonst kann ich mir den Sport nicht leisten. Das ist natürlich ein Druck, weil ich mir davon mein Leben finanziere. Auf so einer Weltbühne schauen viel mehr Augen auf einen: Bringt man nach einem Olympiasieg noch die Leistung? Da ist viel Druck von außen. Über die Jahre habe ich gelernt, damit umzugehen. Ich sage mir immer, wenn ich auf internationalen Meisterschaften bin: Der Ring ist der gleiche, die Kugel ist immer noch vier Kilo schwer. Die Schuhe, die ich trage, sind auch noch die gleichen. Das hilft mir, im Hier und Jetzt zu sein. Und die Chance zu nutzen.

Wie hilft Ihnen der christliche Glaube in der Sportwelt, wo der Wert eines Menschen schnell an seine Leistung geknüpft wird?
Der christliche Glaube hilft mir unglaublich, weil ich weiß, dass Gott mich so liebt, wie ich bin. Meine Leistung fügt dem nichts hinzu und kann dem nichts nehmen. Das gibt mir so eine unfassbare Ruhe. Egal was kommt, ich weiß: Es ist gut so, wie es ist. Ich kann deshalb mit einer gewissen Gelassenheit in den Wettkampf gehen. Das heißt nicht, dass ich einfach bete: „Gott, lass mich 20 Meter stoßen.“ Ich arbeite auch hart dafür. Aber es gibt mir eine andere Grundeinstellung. Egal, wie weit die Kugel heute fliegt, ich bin trotzdem wertvoll und geliebt.
So selbstbewusst, wie Sie heute rüberkommen, waren Sie in Ihrer Schulzeit noch nicht. Sie haben damals Mobbing und Diskriminierung erlebt.
Ich bin in einer kleinen Ortschaft großgeworden und war die einzige Farbige in der Schule. Deswegen hatte ich immer wieder Mobbing-Erlebnisse. Als junges Mädchen konnte ich damit nicht gut umgehen. Generell ist es schwer für ein Kind, wenn einem immer wieder gesagt wird: „Dieses und jenes stimmt an dir nicht. Das kannst du nicht.“ Ich habe irgendwann als meine scheinbar wahre Identität das angenommen, was andere über mich gesagt haben. Da rauszukommen, war ein sehr langer Prozess.
Je mehr ich im Glauben gewachsen bin, umso mehr habe ich gelernt, dass diese Lügen, die über mich ausgesprochen wurden, nicht die Wahrheit sind. Gott hat ein ganz anderes Bild von mir und das darf ich als Wahrheit annehmen. Das hat mich als Kind vor Herausforderungen gestellt, aber dadurch habe ich auch eine gewisse Resilienz aufgebaut. Ich kann mich immer wieder daran festhalten, was Gott über mich sagt. Es hat mir auch geholfen, eine Familie zu haben, mit der ich darüber sprechen kann.
„Ich weiß: Da draußen gibt es eine kleine Yemi, die das auch gerade durchmacht. Und die jemanden braucht, der darüber spricht und zeigt, dass man darüber hinauswachsen kann.“
Yemisi Ogunleye
Welche Erlebnisse haben es Ihnen damals besonders schwer gemacht?
Die größte Lüge, mit der ich immer noch kämpfe, ist die, dass ich etwas nicht schaffen kann. Damals zum Beispiel ein Deutschtest, wo ich immer nur Sechsen geschrieben habe. Ich werde nicht vergessen, wie ich heulend den Heimweg angetreten habe. Ich bin dankbar, dass ich Eltern habe, die mich deswegen nicht unter Druck gesetzt haben. Meine Mama hat mich jedes Mal in den Arm genommen und gesagt: „Ist nicht so schlimm.“ Die schlechten Noten oder Aussagen von Lehrern wie „Du kannst das nicht, du musst die Klasse wiederholen“ waren hart.
Erleben Sie heute noch Diskriminierung?
So wie im Kindesalter nicht mehr. Manchmal Blicke oder Bemerkungen zu meinen Haaren. Durch den Olympiasieg habe ich Kommentare gehört wie: „Du bist keine von uns.“ Diskriminierung ist in unserer Gesellschaft noch präsent. Man muss dagegen eine gewisse Resilienz aufbauen. Es ist schade, dass Menschen so denken. Ich kann sie nicht verändern. Aber ich kann darauf aufmerksam machen, wie es einem Menschen ergeht, wenn man solche Dinge hört. Ich spreche darüber, weil ich weiß: Da draußen gibt es eine kleine Yemi, die das auch gerade durchmacht. Und die jemanden braucht, der darüber spricht und zeigt, dass man darüber hinauswachsen kann.
Wie haben Sie es geschafft, Ihren eigenen Weg zu finden?
Als Kind konnte ich das noch nicht. Aber der Sport war dann ein großer Halt. Zuerst sogar noch vor dem Glauben. Da war ich gut. Da konnte mir keiner sagen: „Das kannst du nicht.“ Als ich meine ersten Verletzungen hatte, mit 14 und 16 Jahren, habe ich dann gemerkt: „Yemi, der Sport kann auch mal nicht mehr da sein. Wer bist du dann ohne Sport?“ Ich bin dann mehr in die Kirche gegangen und habe dort meinen Anker und Halt gefunden. Da war der Sport nicht mehr auf Platz eins, sondern direkt dahinter. Das hat mir in meiner Entwicklung als Persönlichkeit und als Athletin extrem geholfen.

In dieser schweren Zeit wurde auch der Glaube für Sie immer wichtiger.
Mein Bruder und ich sind mit meiner Mutter als Kinder zum Gottesdienst gegangen. Aber eher, um mit den anderen Kindern dort zu sein. Ich konnte mich damit nicht so wirklich identifizieren. Ich hatte immer das Gefühl, Gott liebt alle anderen und hat allen ein Talent gegeben. Sie haben gesungen, Instrumente gespielt, waren immer fröhlich. Und ich habe mich immer fehl am Platz gefühlt. Ich dachte immer, dass ich kein Talent habe. Ich traute mich auch nicht, vor Menschen zu stehen, geschweige denn, zu sprechen. Das kam durch die Schulzeit.
Aber eine Jugendleiterin hat sich damals um mich gekümmert. Das war das erste Mal, dass ich mein Herz jemandem ausschütten und erzählen konnte, was in der Schule passiert ist. Mit welchen dunklen Gedanken ich mich herumschlage. Sie war meine Mentorin. Sie war wie ein Engel für mich, von Gott gesandt in der schwersten Zeit meines Lebens. Sie hat mir den Weg zum Glauben geöffnet.
Ich habe mich dann als Jugendliche immer wieder nach Gott ausgestreckt und gesagt: „Wenn es dich wirklich gibt, wie alle es in der Kirche immer sagen, dann zeig dich mir doch auch.“ Im Alter von 14 oder 15 Jahren und an einem Punkt, wo ich dunkle Gedanken hatte, hat er zu mir gesprochen durch Jeremia 29,11. Mir wurde klar, dass meine Gedanken nicht seine Gedanken sind. Und dass Gott so viele bessere Pläne hat als ich. Und dass die Gedanken, die Gott über mich hat, gut sind. Ich wusste auf einmal: Er hat eine Zukunft für mich. Das hat mich in dem Moment tief berührt. Mein Herz, das über Jahre in tausend Teile zersprungen war, hat Heilung erlebt. Ich weiß: Gott lebt, er ist real. Ohne ihn wäre ich nicht da, wo ich heute bin.
„Mein Herz, das über Jahre in tausend Teile zersprungen war, hat Heilung erlebt. Ich weiß: Gott lebt, er ist real.“
Yemisi Ogunleye
Wie erleben Sie Gott konkret in Ihrem Leben?
Durch vieles. Allein schon dadurch, jeden Morgen meine Augen zu öffnen. Den Sonnenschein zu sehen. Ich glaube, Gott spricht durch die Natur, durch sein Wort. Ich habe mir zur Aufgabe gemacht, jeden Tag in der Bibel zu lesen. Und wenn es nur ein Vers ist. Und auch mal in der Stille zu sitzen und zu hören: „Gott, was ist dein Wille? Was ist dein Plan?“ Vor allem in einer Zeit, in der alles so trubelig und laut ist. Wenn ich ins Training gehe, sage ich immer: „Gott, du bist mein erster Coach.“
Musik ist in Ihrem Leben sehr wichtig. Sie haben mal gesagt, wenn Sie keine Worte mehr haben, dann singen Sie. Was bedeutet Ihnen die Musik?
Die Liebe zur Musik habe ich erst entdeckt, als ich die Verletzung hatte und keinen Sport mehr machen konnte. Ich hatte ja Zeit, weil ich keine Wettkämpfe oder Trainings hatte. Da habe ich an der Musikschule unserer Gemeinde gelernt, zu singen und Gitarre zu spielen. Klavier spielen konnte ich schon vorher. Ich habe gemerkt, dass mir das Singen extrem guttut. Anbetungslieder für Gott zu singen, hat mir schon immer so viel Kraft gegeben und so viel Freude bereitet.
Was möchten Sie anderen Frauen mitgeben?
Dass sie in der von Gott gegebenen Identität leben. Dass sie sich nicht verstellen oder etwas sein wollen, was sie nicht sind. Und dass sie in der Beziehung zu Gott wachsen. Meine Lieblingsgeschichte in der Bibel ist die von Maria und Martha, als Jesus sie besucht. Maria hat sich zu seinen Füßen gesetzt und einfach zugehört, was er zu sagen hatte. Und Martha war in der Küche und versuchte, Jesus durch ihr Tun zu beeindrucken. Jesus sagte dann: „Martha, du machst dir so viele Sorgen um so vieles. Aber deine Schwester hat das Wichtigste erkannt: zu meinen Füßen zu sitzen und mir zuzuhören. Und in mir Ruhe zu finden.“ Das möchte ich weitergeben: Dem Drang der Welt, zu funktionieren, auch mal zu entfliehen. Und sich zu fragen: Wer bin ich eigentlich in Christus?
Vielen Dank für das Interview!