PRO: Sie haben sich freiwillig zum Einsatz in der Armee gemeldet und an der Front den linken Unterschenkel verloren. Wie haben Sie sich durch den Militärdienst verändert?
Sasha: Ich war auf jeden Fall anders. Auf dem Schlachtfeld war ich ein ganz anderer Sasha – einer, der klar denkt, schnell reagiert, Entscheidungen trifft und angemessen sowie gezielt handelt. Aber der Sasha aus meiner Heimat – das ist jemand, der vor allen Dingen Angst hat, der Angst vor Blut hat, der sogar vor der Höhe Angst hat. Ich erlebte diese Veränderung jedes Mal, wenn ich in direkte Kampfhandlungen verwickelt war. Das hat mich fasziniert. Es war wie ein Funke, eine Wandlung, ein Übergangsmoment. Jedes Mal, wenn ich an die Front fuhr, wusste ich: Ich werde gleich aus dem Fahrzeug aussteigen und ein ganz anderer Sasha sein.
Mochten Sie das, hat Ihnen das gefallen? Und wie erklären Sie sich diese Empfindungen?
Für mich hat sich diese Zeit wie ein Traum angefühlt – sie war sehr besonders, irgendwie hell. Ich habe verstanden, dass ich Dinge verändern kann, dass das, was ich tue, einen Unterschied macht. Ich versuche es mit einem Beispiel zu veranschaulichen: Als ich mein Bein verloren habe, wusste ich, was ich tun muss. Ob bewusst oder unbewusst, in welchem Zustand ich auch war, ich wusste, wie ich weitermachen sollte. Jetzt ist mein Leben ungewisser, obwohl ich freier handeln kann. Momentan bin ich an nichts gebunden. Das bedeutet, ich könnte alles tun, überall – aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Im Krieg hatte ich ein klares Ziel, und dieses Ziel war: überleben. Und zusätzlich habe ich etwas getan, das mir Sinn und Wert gegeben hat. Was außerdem dazukam: Ich stande die ganze Zeit unter Adrenalin – dass hat irgendwie alles heller gemacht.
Das klingt fast werbend und ziemlich heroisch – so, als würden Sie diese Zeit vermissen. Gab es auch Tage oder Momente, in denen Sie nicht mehr wussten, wie es weitergeht? In denen Sie aus diesem traumähnlichen Zustand herausgerissen und brutal mit der Realität des Krieges konfrontiert wurden?
Ja, diesen Moment gab es. Ich hatte während der Zeit an der Front immer das Gefühl, dass Gott dabei war, dass er mir Antworten auf meine Fragen gab. Ich war einfach überzeugt, Gott ist in meiner Nähe, er ist bei mir. Trotzdem gab es einen sehr einschneidenden Moment für mich. Es war der Tag, an dem ein guter Freund von mir getötet wurde. Wir verabschiedeten uns, es war eigentlich ein gewöhnlicher Abschied, aber es gab ein besonderes, ein unangenehmes Gefühl unter uns Soldaten – ein Gefühl des Todes – es ist schwer zu beschreiben, aber wenn du täglich mit dem Tod konfrontiert wirst, kannst du den Tod spüren. Dieses Mal sollte uns unser Gefühl leider auch nicht enttäuschen.
Als ich am nächsten Tag aufwachte, erfuhr ich, dass er gestorben war – ich habe in meinem Leben noch nie geweint, zumindest nicht, dass ich mich erinnern kann. Aber als ich hörte, dass mein Freund gestorben war, brach ich in Tränen aus. Ich konnte die Tränen nicht verbergen, nicht aufhalten, nicht stoppen, sie kamen einfach von selbst. In diesem Moment wusste ich nicht mehr, was ich beten sollte, ich hatte keine Worte. Manche Menschen sagen, es gibt immer Grund zu danken, aber ich hatte keinen Grund mehr zu danken. Ich habe eine mir sehr nahestehende Person verloren. Ich hatte viele Fragen. Warum ist das passiert? Warum bin ich am Leben, und er ist gestorben? Warum?
Ich habe dann einfach zu Gott in diesem Moment gesagt: „Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Ich beschuldige dich nicht. Ich verstehe, dass das Leben meines Freundes von russischen Soldaten genommen wurde und nicht von dir, Gott, aber ich kann nicht dankbar sein, ich kann mich nicht freuen, aber ich akzeptiere, ich glaube und verstehe, dass du immer noch in dieser Zeit da bist.“
Wie ging es weiter?
Ein bisschen später kam ein Kommandeur zu mir und sagte mir, dass ich mich für meine nächste Mission bereit machen soll. Das war zu viel für mich. Ich sagte ihm: „Ich kann nicht, ich schaffe das nicht, ich bin dazu emotional nicht in der Lage.“ Er erwiderte daraufhin, dass es außer mir keinen gibt, der gehen kann. Er bräuchte mich. Ich hatte keine andere Wahl, ich musste gehen. Während wir auf dem Weg zu unserem Einsatzort waren, betete ich, dass ich nicht zurückkommen würde, dass ich nicht weiter leben müsste. Ich betete, dass Gott mein Leben beendet. Die Vorstellung, der Frau und dem Sohn meines Freundes irgendwann gegenüber zu stehen und zu sagen: „Ich war dabei, als sich dein Mann verabschiedet hat und ich habe ihn trotz meines unguten Gefühles nicht aufgehalten“, war für mich unerträglich.
Ich sehe, Gott hat diese Bitte nicht erhört.
Nein, dieses Gebet hat Gott nicht erhört.
„Ich verstand, dass es der Herzschlag meines Kameraden war, der neben mir lag. Es war seine Angst, die ich hören konnte. Vorsichtig flüsterte ich ihm zu: ‚Mach dir keine Sorgen, ich bete für uns, und wir werden überleben.‘“
Hat sich in der Zeit bei der Armee Ihr Glaube und Ihre Beziehung zu Gott verändert – und falls ja, wie?
Bevor ich an die Front musste, war ich sehr gespannt darauf, wie sich mein Glaube verändern wird. Als ich dann im aktiven Kampfeinsatz war, habe ich erlebt, dass Gott da war und dass ich sehr direkt mit Gott im Austausch sein konnte. Trotz sehr schwieriger Momente des Verlusts, des Zweifels und der Entscheidungen war Gott da. Das wurde allerdings auch auf die Probe gestellt. Wenn es in Ordnung ist, erzähle ich gerne eine kleine Geschichte, die auch ein bisschen witzig ist.
Nur zu.
Ich war schon ein paar Tage in der Armee, als ein Kommandant auf mich zukam. Er fragte mich, ob ich mit ihm kommen kann, um einen verwundeten Soldaten zu retten. Ich war erschöpft und sagte deswegen: „Ich kann nicht.“ Nach einer Weile schaffte er es, mich zu überreden, und ich willigte ein. Wir machten uns auf, um den verwundeten Soldaten zu holen. Tatsächlich fanden wir den Soldaten. Als wir ankamen, legten wir ihn sofort auf eine Bahre und begannen zu tragen. Plötzlich hörten wir Drohnen über uns. Es war uns direkt klar, dass es feindliche Drohnen sein mussten. Wir rannten also, so schnell wir konnten, von dem verletzten Soldaten weg, legten uns in entsprechender Entfernung auf den Boden und stellten uns tot. Während wir auf dem Boden lagen, hörte ich ein Klopfen. Ich konnte es nicht zuordnen, es war ein schnelles, dumpfes Klopfen. Ich fragte mich, wo dieses Geräusch herkäme.
Nach einer Weile verstand ich, dass es der Herzschlag meines Kameraden war, der neben mir lag. Es war seine Angst, die ich hören konnte. Vorsichtig flüsterte ich ihm zu: „Mach dir keine Sorgen, ich bete für uns, und wir werden überleben.“ Er sagte: „Was soll uns sonst auch anderes übrig bleiben?“ Etwas in mir regte sich, und ich musste widersprechen: „Nein, ich weiß, wovon ich rede. Ich bin Christ. Ich bete für uns, und wir werden überleben.“ Mein Kamerad erwiderte nichts, er akzeptierte es einfach. Ich betete daraufhin zu Gott: „Gott, bitte rette uns, denn wenn du uns nicht rettest, dann sind wir nicht nur tot, sondern ich bin gleichzeitig auch ein Lügner.“ – Gott hat uns errettet.
Gab es andererseits auch Veränderungen in Ihrer Beziehung zu Gott, die nicht gut waren?
Vor allem die Zeit nach meiner Verletzung, die Zeit, nachdem ich auf die Mine getreten bin. Auf einmal war alles anders. Ich war nicht mehr im Kampfmodus, die Traumwelt war vorbei. Ich bin von heute auf morgen aufgewacht. Die Zeit an der Front war sehr extrem, aber es tat gut, auf Gott zu blicken, denn du wusstest, dass selbst, wenn du getötet werden würdest, du direkt bei Jesus sein wirst. Das war sehr intensiv, Gott war sehr spürbar bei uns, ich habe ihn gebraucht.
Jetzt ist es schwieriger für mich, weil ich an einem sehr ruhigen und komfortablen Ort lebe. Ich habe keine wirklich unmittelbaren Nöte mehr. Ich sehe die Antworten auf meine Gebete nicht mehr so direkt. Jetzt gibt es nicht mehr diese Situationen, in denen man beten muss, um am Leben zu bleiben. Jetzt ist es anders. Es ist ruhiger, und ich bete weniger. Ich sehe auch nicht mehr so unmittelbar, wie Gott wirkt. Das ist manchmal herausfordernd.
Wenn Sie davon erzählen, dass Sie auf eine Mine getreten sind, höre ich keinerlei Schmerz oder Betrübnis in Ihrer Stimme. Wie haben Sie sich in diesem Moment gefühlt, was ist Ihnen da durch den Kopf gegangen?
Das war sehr lustig. Es kam aus dem Nichts. Wir sollten etwas erledigen, aber es war kein klarer Befehl. Ich versuchte, meine Kameraden zu überzeugen, dass wir nicht gehen. Ich sagte, dass Weihnachten ist und ich ein festliches Abendessen vorbereitet hätte. Wir gingen trotzdem. Ich kann mich nur erinnern: Nachdem ich auf die Mine getreten bin, hatte ich zwei Gedanken. Zuerst, als ich auftrat, hörte ich einfach einen lauten Knall und verlor das Gleichgewicht. Mein linker Fuß war komplett zerrissen. Ich hatte keinen Halt mehr und verlor das Gleichgewicht. Ich fiel, senkte den Kopf, schaute hinunter und sah meine Hose, die komplett aufgerissen war. Mein erster Gedanke war: Oh Mann, wie verdammt peinlich. Der andere Gedanke war: Gott sei Dank, jetzt kann ich endlich eine Pause machen. Dann begann ich, mir selbst medizinische Erste Hilfe zu leisten und meine Wunden zu versorgen.
Wie ging es weiter? Wurden Sie dann direkt aus dem Gefahrengebiet evakuiert?
Wir mussten erst noch zu unserem Bunker gelangen, der 200 Meter von uns entfernt war. Ich weiß noch, dass mein Kamerad und ich mitten auf dem Feld waren. Wir ließen unsere Rucksäcke fallen – die Rucksäcke waren viel zu schwer – und sind dann zum Bunker gekrochen. Irgendwann haben wir den Unterschlupf erreicht, und ich konnte über das Funkgerät melden, dass wir verletzt wurden. Während der Zeit im Bunker wurde uns bald klar, dass wir kein Wasser mehr hatten. Den Rucksack, die Flaschen – all das hatten wir zurücklassen müssen. In diesem Moment wurde ich panisch. Wir saßen im Bunker und warteten auf die Evakuierung. Keine Ahnung, wie lange das dauern würde, und wir hatten kein Wasser. In dieser Paniksituation fiel mir auf einmal auf, dass wir Weihnachten haben und überall Schnee liegt. Ich kombinierte trotz meiner Panik, dass Schnee Wasser ist und man Schnee auch trinken kann. Ich raffte mich also auf, holte etwas von dem Schnee und gab es meinem Kameraden. Als ich ihm das gefrorene Nass reichte, schaute ich ihn an und sagte: „Frohe Weihnachten.“
Wenn Sie von der Front erzählen, stelle ich fest, dass Sie das oft mit einer gewissen Prise Humor tun. Wenn ich mir Krieg vorstelle und all diese Geschichten höre, klingt das für mich primär sehr schmerzhaft. Ist das für Sie auch so oder können Sie alles mit Humor nehmen? Hat Sie das, was Sie erlebt haben, auch mitgenommen oder traumatisiert?
Ja, definitiv. Ich habe Flashbacks, und ich schlafe sehr schlecht ein. Ich muss immer etwas im Hintergrund laufen lassen, um einzuschlafen. Denn wenn ich mich hinlege, ist immer noch alles in meinem Kopf – alles, was ich gehört habe. Das Problem ist: Wenn wir auf Positionen waren, war alles dunkel, dann mussten wir immer hören – alles hören. Das Einzige, was du machen kannst, um dich zu schützen, ist zu hören, um den Feind zu lokalisieren.
Und jetzt habe ich dieses Phänomen, dass ich nachts ins Bett gehe, alles ist dunkel, und ich höre alles wieder. Wenn ich jetzt einschlafen will, muss ich immer etwas im Hintergrund laufen lassen, meistens Stand-up-Comedy. Und ich muss immer eine Wasserflasche bei mir haben. Sonst bekomme ich Panik. Das kommt davon, weil ich kein Wasser hatte, als ich mein Bein verloren habe – als wir den Schnee trinken mussten.
Während wir im Café sitzen, beginnt auf einmal der Luftalarm. Mein Puls steigt. Es ist mein erster Luftalarm in der Ukraine. Sasha schaut mich an und sagt: „Keine Sorge.“ Wir bleiben also sitzen, so wie alle anderen. Nicht, weil die Menschen um mich herum lebensmüde sind, sondern weil es für sie zum Alltag geworden ist. Wieder einmal stelle ich fest, dass der Krieg keine ferne Erzählung aus den Nachrichten ist, sondern harte Realität. Eine Realität die keine Pause kennt. Ich versuche, mich zu konzentrieren, und stelle eine Frage, die mich von Anfang an bewegt.
Wie ist es für Sie, dass Sie als Christ auf Menschen geschossen haben und töten mussten?
Ich habe darüber vorher viel nachgedacht. Ich hoffte sehr, dass ich in keine Situation kommen werde, in der ich von Angesicht zu Angesicht involviert sein werde, aber jetzt … An und für sich bin ich sehr pazifistisch. Ich verschone sogar die Tiere, die Mücken. Für mich ist Mord von meiner Lebenseinstellung her sehr weit weg. Aber für mich war es wichtig zu verstehen, dass, wenn ich zur Armee gehe, ich jemanden stoppe, der etwas Grausames macht. Die Tatsache, dass, wenn ich ihn nicht stoppe, die Konsequenz schlimmer sein wird. Das bedeutet für mich, dass ich Schaden abwende und nicht jemanden mit Absicht töte. Ich war bereit, den Feinden zu helfen, wenn sie sich zurückziehen. Aber wenn sie sich nicht raushalten und bereit sind, mich und meine Brüder zu töten, und weitermachen, um noch mehr zu töten, dann bin ich gezwungen, sie zu stoppen.
Bereuen Sie die Entscheidung, zur Armee gegangen zu sein? Und was denken Sie, ist Gottes Aufgabe für Sie aktuell?
Ich bereue es nicht. Auch wenn ich vorher wüsste, dass all das passieren würde, auch wenn ich – im Gegensatz zu jetzt – nicht finanziell abgesichert wäre, würde ich wieder genauso entscheiden.
Ich habe oft das Gefühl, dass ich noch nicht genug für unser Land mache, dass ich noch mehr Einsatz bringen müsste. Deswegen trete ich gerade erneut in den militärischen Dienst ein – allerdings nicht, um zu kämpfen, sondern um meine Erfahrung bezüglich der Zeit nach dem Kampfeinsatz als Veteran zu teilen und um zu zeigen, dass das Leben damit nicht endet, sondern ein Neuanfang sein kann. Denn der Staat wird dir helfen, es gibt Menschen um dich herum, die dir helfen können, und parallel dazu – also ohne das Christentum aufzwingen zu wollen – will ich zeigen, dass Gott dir den richtigen Weg zeigen kann.
Denn normalerweise zeigen Männer in unserer Sozialisierung keine Schwäche. Bitte nicht falsch verstehen: Sie sind nicht schwach, aber sie leiden. Und ich möchte eine Alternative zeigen: Du musst nicht verbergen, was du fühlst – du bist nicht allein in dieser Situation; ich bin bereit, das mit dir durchzustehen. Und wenn man mich fragt, wie das möglich ist, werde ich sagen, dass Gott da ist, bereit zu trösten und Hoffnung zu geben – auch dir ganz persönlich. Ich bin nicht sicher, ob ich jemanden so prägen kann, dass er sich zu Gott wendet, aber wenn es auch nur eine Person gibt, werde ich der Glücklichste von uns allen sein.
Danke für Ihre Offenheit und das Gespräch!
Von: Christian Biefel