Südsudan, Frühjahr 2025. Meine Kollegen und ich besuchen ein Projekt in Pochalla, einer abgelegenen Provinz an der Grenze zu Äthiopien. „Tearfund“ arbeitet hier im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). In Pochalla leben etwa 100.000 Menschen, die meisten in kleinen Lehmhütten. Das Gebiet ist von Sümpfen umgeben und nur zu Fuß oder über den Luftweg zu erreichen. Pochalla ist eine brutal gebeutelte Region. Als der Südsudan nach schweren Bürgerkriegen zwischen 2013 und 2018 endlich zur Ruhe kam, zogen sich die letzten Rebellen nach Pochalla zurück. Sie plünderten die Bewohner aus, brannten Hütten und Felder nieder, fielen über die Frauen her. Viele Menschen flüchteten über den weißen Nil nach Äthiopien, wo sie von Angehörigen der gleichen Stämme aufgenommen wurden. Nachdem auch die letzten Rebellen besiegt wurden, kehrten die Menschen langsam nach Pochalla zurück. Der Wiederaufbau wird seit 2020 vom BMZ unterstützt.
In Pochalla treffen wir uns mit einer Gruppe von Frauen und Männern, die als Multiplikatoren arbeiten. Eine von ihnen ist Tanisha. Sie ist 48 Jahre alt und Mutter von sechs Kindern. Tanisha hatte wie viele andere Frauen in Pochalla nicht die Möglichkeit eine Schule zu besuchen und kann bis heute nicht lesen und schreiben. Auch sie litt unter den Rebellen – und unter häuslicher Gewalt. Jahrelang wurden sie und ihre Kinder von ihrem arbeitslosen Ehemann misshandelt, wenn dieser – wieder einmal – zu viel getrunken hatte. Bis ein Tag ihr Leben veränderte: Eine Mitarbeiterin von „Coalition for Humanity“, einem örtlichen Partner von „Tearfund“, besucht ihre Kirche und führt mit den Frauen des Ortes eine Schulung über häusliche Gewalt durch. Sie arbeitet mit Illustrationen auf großen Plakaten, um den Frauen ihre Worte zu veranschaulichen. Auf einem davon sind drei Bilder zu sehen. Zunächst ist ein Mann abgebildet, der seine Frau schlägt, dann ein Mann, der einer Arbeit nachgeht, und schließlich eine glückliche Familie. Fast ein bisschen kitschig, denke ich, als uns die Bilder gezeigt werden.
Doch für Tanisha sind sie ein Aha-Erlebnis. „Ich wusste nicht, dass Männer ihre Frauen nicht schlagen sollen. Gewalt war normal für mich. Viele Männer trinken und schlagen dann zu. Fast alle Frauen im Dorf erleben das, doch niemand spricht darüber. Es ist ein Tabu in unserer Kultur. Dann sah ich die Bilder, und die Trainerin hat deutlich gesagt, dass kein Mann das Recht hat, seine Frau und seine Kinder zu schlagen.“ Tanisha ist überrascht – und ermutigt, als am folgenden Sonntag auch der Pastor ihrer Gemeinde das Thema in seiner nächsten Predigt aufgreift. „In der Bibel steht, sagte er, Männer sollen ihren Frauen dienen, wie Christus der Gemeinde dient – und das heißt ohne Gewalt. Das hat für mich alles verändert“, berichtet Tanisha. Sie meldet sich bereitwillig, als sie erfährt, dass die Möglichkeit angeboten wird, eine Ausbildung zum „Peace Champion“, einer Art Mediatorin, zu machen. Heute führt sie selbst Schulungen durch für andere Frauen. Bemerkenswert ist, dass es Tanisha gelingt, mit Hilfe des Pastors, ihren Mann zu überzeugen, sich ebenfalls einer Gruppe anzuschließen. Dort ist das Thema „transforming masculanities“, darin wird ein verändertes Bild von Männlichkeit vermittelt: gewaltfrei und verantwortungsvoll.
Gewalt ist heute kein Thema mehr in ihrer Familie. Sie haben sich eine kleine Existenz als Farmer aufgebaut, ihre Kinder besuchen eine Schule.
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Warum erzähle ich diese Geschichte? Weil sie eindrücklich zeigt, was aus einem Menschen werden kann, wenn er oder sie eine Chance bekommen. Meistens beginnt das mit Information. Das Wissen um die eigenen Rechte und die Überwindung von Armut sind eng miteinander verbunden. Die Schulung zu häuslicher Gewalt war die Initialzündung für Tanisha, eine Ausbildung zu machen – und hat die ganze Familie verändert. Diese Schulung war methodisch so aufgebaut, dass auch Analphabetinnen daran teilnehmen konnten: mit vielen einfachen Bildern. Die nächste Generation hat nun bereits Zugang zu Schulbildung, eine Pochalla ist eine Primarschule entstanden.
Vor gut einem Jahr ist Tanisha in den Ältestenrat ihres Stammes gewählt worden. Sie ist die erste Frau in der langen Geschichte ihres Stammes, die das jemals erreicht hat. Es ist eine Ehre für die mutige Frau. Aber es ist nicht nur für sie selbst wichtig. Von diesem herausgehobenen Status Tanishas haben alle Frauen in ihrem Ort einen großen Mehrwert: Sie erleben eine völlig neue Form der Repräsentanz. Sie kommen sichtbar dort vor, wo Recht gesprochen wird. Tanisha erklärt voller Stolz: „Endlich haben die anderen Frauen eine Ansprechpartnerin und trauen sich, ihre Anliegen vorzubringen. Aber“, sie hebt den Finger und sieht uns Männer mit einem strengen Blick an, „es gibt noch sehr viel zu tun, bis die Spirale von Gewalt und Armut durchbrochen ist.“
Von: Uwe Heimowski