800 Jahre junge Stimmen

Der Leipziger Thomanerchor feiert am 20. März sein 800-jähriges Jubiläum. Wie es hinter den Kulissen der „Thomana“ aussieht und wie diese Einrichtung die jungen Sänger prägt, zeigt ein Dokumentarfilm, der am Donnerstag in die Kinos kam.

Von PRO

Es ist eine bewegende Feier, als die Abiturienten aus dem Thomanerchor verabschiedet werden. Da fließen bei den jungen Männern auch Tränen. Etwa neun Jahre ihrer Kindheit und Jugend haben sie in dem traditionsreichen Internat, dem „Kasten“, gewohnt und jeden Tag nach der Schule verschiedene Proben, Gesangs- und Instrumentalunterricht gehabt, in der Chorgemeinschaft Verantwortung übernommen, Leben geteilt. Neun Jahre in dem Lebensabschnitt, in dem sie erwachsen geworden sind, „eine Zeit, in der man sich selbst entdeckt“, wie es einer der Choristen resümiert.

Der Thomanerchor und Thomasschule gehörten bei ihrer Gründung 1212 zum Leipziger Augustinerkloster St. Thomas. Dort erhielten die Schüler vor allem eine musikalische Ausbildung, um bei Gottesdiensten, Taufen, Trauungen und anderen Veranstaltungen zu singen – als Gegenleistung für Bildung und Unterkunft im Stift. Der wohl bekannteste Thomaskantor war Johann Sebastian Bach. Bis heute gehören seine Werke neben geistlicher und weltlicher Vokalmusik aller Epochen zum Standardrepertoire des Knabenchors.

Was es heißt, Thomaner zu sein

Der Film „Die Thomaner. Herz und Mund und Tat und Leben“ von Paul Smaczny und Günter Atteln begleitet den Chor während eines Jahres im ganz normalen Alltag, auf Konzertreise, zu Gottesdiensten. Dabei zeigt er vor allem das, was man nicht sieht, wenn man nur die Konzerte und Aufnahmen des weltberühmten Chores kennt: wie die neunjährigen Anwärter bei der Aufnahmeprüfung vorsingen und Intervalle hören müssen, wie der Thomaskantor Georg Christoph Biller kurz vor dem Konzert hinter der Bühne letzte Anweisungen gibt und von unaufmerksamen Sängern genervt ist, die Kissenschlacht in den Stuben, die „Gib Aids keine Chance“-Poster in den Zimmern der Jugendlichen, und wie sich die Thomaner nach den Gottesdiensten zu Heiligabend auf die Geschenke stürzen, fern von ihren Familien. Immer auf Augenhöhe mit den Jungs und jungen Männern, aber nie aufdringlich, nur beobachtend, ist die Kamera dabei. Sie fängt Blicke, Gesten, Wortwechsel, Gähnen, Lachen, Tuscheln ein und begibt sich damit auf die Ebene der Menschen hinter der Institution Thomanerchor.

Dabei wird schnell deutlich: Der Thomanerchor ist weit mehr als nur Proben und Konzerte. Ganz entscheidend ist auch die Gemeinschaft. Ältere und jüngere Thomaner teilen sich das Zimmer, die Älteren leiten Proben, geben ihre Erfahrungen weiter, übernehmen Verantwortung für die Jüngeren. Es geht nicht um Einzelkämpfer, sondern darum, füreinander da zu sein und miteinander etwas zu schaffen. Der Chor wird zur zweiten Familie.

Was es heißt, Thomaner zu sein, wird im Film auch in den  facettenreichen und sehr persönlichen Interviewszenen deutlich. Verschiedene jüngere und ältere Choristen sprechen über Heimweh, Stress, Gemeinschaft. Dass es nicht einfach sei, sein Kind abzugeben, dass man bis zum Schluss zweifeln könne, ob es richtig war, erzählt die Mutter eines jungen Sopranisten. Auch verschiedene Mitarbeiter wie die Rektorin der Thomasschule, Kathleen Kornmann, der Thomaspfarrer Christian Wolff und Thomaskantor Biller kommen zu Wort.

„Es kann passieren, dass man gläubig wird“

Die Regisseure nehmen sich besonders Zeit, um der Bedeutung des christlichen Glaubens für den Thomanerchor nachzuspüren. „Es ist wichtig, dass bei der Aufnahmeprüfung die Gretchenfrage gestellt wird: Wie hältst du es mit der Religion?“, sagt Thomaskantor Biller. Nicht alle Choristen haben einen christlichen Hintergrund, auch Atheisten oder Jugendliche anderen Glaubens dürfen mitsingen. Aber einige lassen sich in dieser Zeit taufen und konfirmieren. „Man muss nicht gläubig sein, um Thomaner zu werden, aber es kann durchaus passieren, dass man es wird“, erzählt einer von ihnen. Der Thomanerchor, das zeigt der Film, ist „kein strenger Kirchenchor“, wie einer der Sänger meint. Aber geistliche Musik ist auch nicht nur wegen ihres künstlerischen Wertes sein Hauptrepertoire. „Wir haben einen kirchlichen Auftrag“, sagt der Thomaspfarrer. „Wir brauchen immer einen Stamm von Mitgliedern, die aus dieser Tradition kommen, sonst stirbt etwas ab.“

In einer kurzen Abschiedsrede an die Abiturienten sagt Biller, Thomaner seien nicht automatisch „in Christo Jesu“, wenn sie so einen Text singen. Er wünscht den Abgängern: „Unabhängig davon, wozu ihr euch bekennt, nehmt viel mit, interessiert euch füreinander.“ Dass der Film wenig später endet mit dem Chorus aus Bartholdys „Elias“: „Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten“, kann man als Segenswunsch verstehen – nicht nur für die Thomaner.

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