70 Jahre Spiegel: Schwitzen, Stolpern, Stürzen

Die Attribute für den Jubilar sind vielfältig. Der Spiegel wurde häufig als „Sturmgeschütz der Demokratie“ bezeichnet und brachte dabei auch den einen oder anderen Politiker zum Schwitzen, Stolpern oder Stürzen. Johannes Weil schreibt dem Magazin einen Brief zum Geburtstag.
Von PRO
Prägt seit 70 Jahren die deutsche Medienlandschaft: der Spiegel (hier das Hauptgebäude in der Hamburger HafenCity)

Liebe Spiegel-Redaktion,

ich kann mich noch sehr gut daran erinnern: Es war im 10. Schuljahr im Musikunterricht in der Gesamtschule. Das Thema war Werbung, und wir mussten verschiedene Musikvideos interpretieren. Eines davon handelte von einem Hamburger Nachrichtenmagazin, das in meinem bisherigen Weltbild überhaupt nicht vorkam: Es ging um Euch, die Ihr dieses Jahr 70 werdet.

In dem Video traten die Aushängeschilder der damaligen Politik als Band auf. Politik, für die ich mich wenig bis gar nicht interessierte. Helmut Kohl, Theo Waigel und Jürgen Möllemann sangen maskiert „Monday morning feels so bad“. Sie fürchteten sich, oder hatten zumindest eine gehörige Portion Respekt vor Eurem Erscheinungstag. Viele Leser hingegen freuten sich anders als die Polit-Größen auf den Montag, und den Enthüllungsjournalismus aus Hamburg.

Wochenanfang mit anderen Augen sehen

Dass die Journalisten den Wochenstart mit ganz anderen Augen gesehen haben, als die Politiker in Bonn, war mir damals noch nicht klar. Erst im Laufe meines Studiums habe ich das Video immer besser verstanden. Montags war dann nach der Mensa erst einmal Spiegel-Lesezeit. Meine ersten Ausflüge ins Internet, die ich weniger und später unternommen habe als mein Umfeld, gingen zu Euch. Spiegel Online war eine verlässliche und seriöse Informationsquelle.

Bereits zwei Jahre nach Eurer Gründung habt ihr 1949 das Spiegel-Statut beschlossen. Darin steht: „Alle im Spiegel verarbeiteten und verzeichneten Nachrichten, Informationen, Tatsachen müssen unbedingt zutreffen. Jede Nachricht und jede Tatsache ist peinlichst genau nachzuprüfen.“ Aktuell habt ihr den Leitspruch „Der Wahrheit verpflichtet“. Journalisten-Herz, was willst du mehr, als unabhängige und kritische Journalisten?

Eure Redakteure sorgen mit eben diesem unabhängigen und kritischen Journalismus für aufgeklärte und gut informierte Bürger. So sollte es zumindest sein. Ihr zeigt aktuelle Entwicklungen auf und beachtet dabei wichtige journalistische Regeln. Auch wenn Eure Auflage auf mittlerweile 800.000 Exemplare gesunken ist, seid ihr ein deutsches Leitmedium.

„Garant der Meinungsfreiheit“

Dabei sind Euch zahlreiche journalistische Coups gelungen. In der Spiegel-Affäre wurde Euch Landesverrat vorgeworfen, weil ihr interne Dokumente der Bundeswehr veröffentlicht habt. Zwei Eurer wichtigsten Mitarbeiter wurden verhaftet, aber auch Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß (CSU) trat zurück. Für die Regierungsgegner wart und seid ihr wichtig, als ein Garant der Meinungsfreiheit.

Später habt ihr weitere Staats- und Wirtschaftsaffären aufgedeckt. Die Namen Flick und Barschel sind eng mit Recherche-Erfolgen Eurer Leute verbunden. Mit dem Focus gab es 1993 Konkurrenz, die Euch auch einen Auflagen-Verlust bescherte. Eure Meinungs- und Deutungshoheit als einziges Nachrichtenmagazin wurde durch die deutlich konservativere Sicht der Welt aus München gebrochen.

Ihr habt neue Formate wie Spiegel-TV und Spiegel Online entwickelt. Und: Ihr wurdet bunter. Manche Beobachter haben Euch in liberalerem Fahrwasser gesehen. Es gibt nur wenige Verlage, die sich – im Sinne der Wahrheit – eine so umfangreiche Dokumentations- und Rechercheabteilung leisten.

Natürlich habt ihr auch keine weiße Weste. Das würde mich nach 70 Jahren Journalismus auch sehr verwundern. Kritik gab es für unangemessene Berichterstattung und Panikmache über die Krankheit Aids. Auch die NS-Vergangenheit eigener Redakteure sollt ihr nicht immer sauber aufgearbeitet haben. Ob eine nackte Minderjährige wirklich aufs Titelbild muss, wage ich zu bezweifeln. Der Vorfall brachte euch 1977 die erste Rüge des Presserates wegen Sexismus ein. Auch der Sparkurs mit Entlassungen und die hohe Fluktuation in der Chefetage haben für Unruhe gesorgt.

„Latente Gefahr für die Demokratie“

Hans-Magnus Enzensberger hat eure Sprache als „latente Gefahr für die deutsche Demokratie“ bezeichnet. Damit werde der Leser desorientiert. Trotzdem sei der Spiegel unentbehrlich, solange es kein kritisches Organ gebe, das ihn ersetzen könne. Rudolf Augstein, Günter Gaus, Erich Böhme und Stefan Aust haben das Blatt geprägt. Aktuell heißt der Kapitän Klaus Brinkbäumer. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal habt ihr mit Eurem Mitbestimmungsmodell entwickelt, das die Redakteure am Gewinn beteiligt. So schreiben sie an ihrer eigenen Erfolgsgeschichte mit.

Liebe Spiegel-Redaktion, Menschen denken mit 70 Jahren daran, den Lebensabend zu genießen. Euch wünsche ich zum Geburtstag weiterhin viele investigative Sternstunden sowie seriöse, aufklärerische und kompetente Berichterstattung. Dies vor allem in einer Zeit, in der Fake-News zur Mode geworden sind. Das Ganze gilt natürlich auch für Euren Online-Auftritt, der noch ein wenig auf seinen 70. Geburtstag warten muss.

Behaltet Euer Gespür für aktuelle (Fehl-)Entwicklungen und beweist Fairness auch bei kirchlichen und evangelikale Themen. Ich kann mich noch gut an die Debatte um die Schülerzeitung Q-rage erinnern. Damals habt Ihr Evangelikalen einen Kreuzzug gegen einen Schüler-Autoren vorgeworfen. Bleibt der Wahrheit verpflichtet, damit die aktuellen Meinungsbildner in den Chor von Kohl, Waigel und Möllemann einstimmen können. Die jüngere Generation muss allerdings den Text ändern: Saturday statt Monday, aber das werden sie auch schon hinbekommen. 

Herzliche Grüße, Euer Johannes Weil. (pro)

Von Johannes Weil, der sich in seinem Politik-Studium immer mehr mit dem Spiegel angefreundet hat.

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