60 Jahre „I have a Dream“

Vor 60 Jahren hielt der US-Bürgerrechtler und Baptistenpastor Martin Luther King seine historische Rede „I have a Dream“. Peter Jörgensen skizziert geistliche Wurzeln und zeigt, warum die Rede in scharfem Kontrast zum Marsch aufs Capitol 2021 steht.
Von PRO
Martin Luther King

Aus welchem Brunnen hatte Dr. Martin Luther King jr. geschöpft, als er am 28. August 1963 in Washington D.C. vor dem Lincoln-Memorial sein Manuskript beiseitelegte und anhob, einen Traum in Worte zu fassen, der aus der Tiefe der Seele aufstieg? Das Ende der Sklaverei und der Entrechtung. Die Vision einer Gemeinschaft, in der Freiheit und Liebe regieren. Ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Ein Land des Rechts und der Gerechtigkeit. Das unveräußerliche Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Das war weit mehr als der amerikanische Traum eines demokratischen Rechtsstaates, wie er in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika 1776 formuliert wurde:

„Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. Dass zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten.“

Aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit, wie die biblische Schöpfungsgeschichte sie erzählt, kommt das Wissen um die Gottebenbildlichkeit und die Würde eines jeden Menschen. Die Universalität der Menschenrechte hat hier ihren Grund, ist jedem Geschöpf durch den Schöpfer als „Begabung“ zuerkannt. Diese Wahrheit speist den amerikanischen Traum und ist der ganzen Menschheit seit jeher eingewebt, erwacht in unterschiedlichen Bildern durch die Jahrtausende hindurch immer wieder neu. Baptistenpastor King lebte mit den Texten der Bibel und aus ihnen heraus. Ihre Weisheit gab ihm Orientierung, speiste seinen Glauben und seine Hoffnung. Den Geist der Liebe und der Gewaltlosigkeit fand er bei Jesus.

Das Land der Verheißung von Recht und Gerechtigkeit war das Land, in das Moses schaute, aber selbst nicht mehr gelangte. Seinem Volk rief er zu:

„Und nun höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich euch lehre, dass ihr sie tun sollt, auf dass ihr lebt und hineinkommt und das Land einnehmt, das euch der Herr, der Gott eurer Väter, gibt. … So haltet sie nun und tut sie! Denn darin zeigt sich den Völkern eure Weisheit und euer Verstand. Wenn sie alle diese Gebote hören werden, dann müssen sie sagen: Was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk!“ (5. Mose 4,1,6)

Durst nach Freiheit, Gleichheit und Würde

Für King war dieses Verständnis – Verständigkeit, Verstand und Weisheit –, das in der Beachtung der zehn Gebote liegt, die große Schau. Sie zu halten und zu tun, war seine Vision, sein Traum. Aus dem Brunnen des Glaubens schöpfte er, wie Generationen vor ihm. Und mit Jesus marschierte er beim „Marsch auf Washington“ 1963. Einhundert Jahre zuvor war zwar die Sklaverei durch Präsident Abraham Lincoln abgeschafft worden, aber die Rassentrennung und der Rassismus waren nicht verschwunden. Sie galt es zu bekämpfen. Mit aller Leidenschaft.
Die berechtigte Unzufriedenheit, weil die Verheißungen von Gleichheit und Würde noch nicht erfüllt sind, weil der Durst nach Freiheit noch nicht gestillt ist, setzt in Bewegung. Nicht länger beschämt werden zu wollen, ist nicht unverschämt. Es ist ein Menschenrecht. Würde darf nicht den einen vorbehalten sein und anderen vorenthalten werden.
Kings Weg als Christ war konsequent gewaltlos, doch mit gewaltiger Wirkung. Das Land der liebenden Gemeinschaft zu sehen, dorthin zu gehen, dieser Verheißung Jesu zu folgen, war die Marschroute.

„Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft«. Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« Es ist kein anderes Gebot größer als diese.“ (Markus 12,29-31)

In diesem Land der Verheißung ist kein Platz für Armut, Rassismus oder Militarismus, aber ein geschützter Raum für alle Menschen. Die Herabwürdigung, die in dem sozialen und juristischen Grundsatz von „getrennt, aber gleich“ steckte, die damaligen amerikanischen Gesetze zur Rassentrennung und die damit verbundene Entrechtung, sowie die fehlende Freiheit waren die Gründe des Marsches auf Washington als machtvoller Demonstration für die Freiheit. Das Versprechen der amerikanischen Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung war der Scheck, den es einzulösen galt. Denn „getrennt aber gleich“ war die zynische Verschleierung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, die alles andere als die Rechtsgleichheit aller Menschen, wie sie in der Unabhängigkeitserklärung formuliert war, garantierte. „Getrennt aber gleich“ ist die Formel, die Entrechtung und die damit verbundene Rechtsungleichheit zu legitimieren, Gleichberechtigung zu verhindern.
Der Freiheits-Marsch auf Washington war der gewaltlose Kampf dafür, eine getrennte Gesellschaft zusammenzuführen. Er war getragen von dem beseelten Wunsch, das Miteinander, wie es in der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung garantiert wurde, zu verwirklichen. Die Stärkung des Rechts, des demokratischen Rechtsstaates mit seinem Grundsatz der unveräußerlichen Würde aller Menschen, als Prinzip der Gemeinschaft, einer „beloved community“ – dafür stand King. Das war und ist der Traum und die Sehnsucht, die nicht spaltet, sondern Freiheit und Gerechtigkeit im Miteinander aller sucht und die Würde eines jeden Menschen achtet, auch die des politischen Gegners.

2021: Entwürdigung und Zerstörung des Rechts

Eine gänzlich anders geartete politische Demonstration, die ebenso als historisch eingeordnet werden muss, fand in Washington D.C. am 06. Januar 2021 statt. Der Marsch zum Capitol, der Sturm auf den amerikanischen Kongress, die Erstürmung des Kongressgebäudes zielten auf die Zerstörung der amerikanischen Demokratie und darauf, den gesellschaftlichen Zusammenhalt vollends aufzukündigen. Allen voran der amerikanische Präsident, der den Mob nach Washington rief und zur Gewalt anstiftete! Tatenlos sah er zu, wie sich die Gewalt Bahn brach und sich anschickte, die Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates zu zerstören. Nicht die Heilung, sondern die Vernichtung der Demokratie waren das Ziel dieses Marsches.
Der Marsch auf das Capitol im Januar 2021 fand, anders als die Demonstration der Bürgerrechtsbewegung von 1963, am entgegengesetzten Ende der National Mall im Zentrum der Hauptstadt der Vereinigten Staaten statt. Trump und seine Gefolgschaft hatten mit ihrem gewalttätigen Marsch und dem Sturm des Kongresses auch ein gegensätzliches Ziel: die Entwürdigung des politischen Gegners und die Zerstörung des Rechts. In die Wunde einer getrennten, einer tief gespaltenen Gesellschaft wurde Öl gegossen. Verletzte und Tote waren die Folge. An Trumps Händen klebt das Blut derer, die beim Capitol-Sturm verletzt oder getötet wurden. Der Schaden für die amerikanische Demokratie ist unermesslich.

Die Rede von Dr. Martin Luther King jr. „Ich habe einen Traum“ ist deshalb Teil des gemeinsamen Gedächtnisses, ist darum weltweites kulturelles Erbe, weil sie etwas anrührt, dass allen Menschen innewohnt: die Sehnsucht, gesehen und würdevoll behandelt zu werden. Gleichbehandlung und ein Rechtssystem, dass die Beachtung der Menschenwürde und Gleichberechtigung garantiert, diesen Traum teilen durch die Zeiten hindurch und an allen Orten besonders diejenigen Menschen, die Diskriminierung und Schlechterstellung erleben. Sie stehen auf. Sie marschieren. Ihr Schrei nach Freiheit und Recht belebt diesen Traum immer wieder neu. Den Traum der Gemeinschaft aller Menschen. Sie kämpfen den Kampf, der nicht vernichten, sondern befreien will. In Verantwortung vor Gott und den Menschen. Mit der Verheißung eines Landes der Freiheit, der Erlösung aus der Gefangenschaft. In Geschwisterlichkeit und mit Gerechtigkeit für alle Kinder Gottes.

„Das Recht ströme wie Wasser; die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ (Amos 5,24)

Es ist das Recht aller Völker, es ist der Rechtsanspruch aller Menschen, an Würde gleich geachtet zu sein und das unveräußerliche Recht zu haben, in Freiheit das Leben zu leben und nach dem eigenen Glück zu streben. Die universelle Geltung der Menschenrechte, das Wissen von der Unantastbarkeit der Würde des Menschen, ist die Weisheit, die Verständigkeit, die aus dem tiefen Brunnen des Glaubens geschöpft wird. Aus ihm steigen die Träume auf, die Gerechtigkeit in Form von Gleichheit, Freiheit und Liebe konkretisiert sehen.
Mag sein, dass das Gewissen der Weltgemeinschaft schlummert und die Sehnsucht nach Gerechtigkeit bei denen stärker ist, die Unrecht leiden. Doch am Ende siegen nicht die Mächtigen oder die Nationen. Schlussendlich gewinnt nicht die Gewalt. Der sanfte Mut, auf Gewalt zu verzichten, aber nicht auf das Recht, ist mehr als ein Traum, er folgt der Verheißung des Wortes Gottes.

Peter Jörgensen ist Gemeindepastor der Baptistenkirche Wedding (Berlin) und knüpft als Koordinator für „Religions for Peace Europe“ Kontakte zu Organisationen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen, sowie staatlichen Stellen.

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