20 Jahre Mauerfall: „Evangelisation ist hier ein Stiefkind“

Trabis, die über die innerdeutsche Grenze fahren. Demonstranten, die auf der Berliner Mauer deutsche Flaggen schwenken. Ost- und Westdeutsche, die sich in den Armen liegen – vor zwanzig Jahren fiel die Mauer und die BRD wurde eins. Anlässlich des Mauerfalljubiläums besucht pro Christen in Ostdeutschland, die versuchen, die heute oftmals noch vorhandenen antichristlichen Mauern in den Köpfen einzureißen. Etwa den sächsischen Evangelisten Lutz Scheufler.
Von PRO

pro: Ist es schwieriger in den neuen Bundesländern zu evangelisieren, als in den alten?

Lutz Scheufler: Nach meiner Erfahrung nicht. In den neuen Bundesländern treffe ich neugierigere Menschen, als in den alten Bundesländern, die Leute im Westen sind eher abgeklärt. Im Osten fragen viele Leute noch nach, sie sind nicht so immunisiert. Sie sind Atheisten und gehören zu keiner Kirche. Im Westen habe ich öfter als hier gesehen, dass es auch möglich ist einer Kirche anzugehören und dennoch Atheist zu sein. Diese Menschen leben, als gäbe es Gott nicht – auch mit Taufschein.

pro: Die Menschen in Ostdeutschland sind also neugieriger?

Lutz Scheufler: Ich stehe als Evangelist nicht nur auf der Bühne, sondern evangelisiere auch in persönlichen Gesprächen. Es ist oft spannend zu sehen, wie manche da Informationen über das Christentum aufsaugen, weil sie einfach keine Ahnung haben. Das erlebt man in den alten Bundesländern weniger, wo es häufig zum guten Ton gehört, Mitglied einer Kirche zu sein. Die schroffe Ablehnung gibt es natürlich überall.

pro: Müssen Ostdeutsche eine höhere Hemmschwelle überwinden, bevor sie sich mit dem Glauben beschäftigen?

Lutz Scheufler: Die Angst der Vereinnahmung ist größer. Das hängt in meiner Generation mit der Vergangenheit zusammen. Deshalb sammeln unsere Seelsorger bei Veranstaltungen auch nicht nur die Adressen der interessierten Gäste, sondern tauschen mit ihrem Gesprächspartner die Daten aus. Jeder, der zu einer solchen Evangelisation kommt und mit einem Seelsorger im Gespräch war, erhält auch die Adresse des Mitarbeiters. Die Hemmschwelle als Christ zu leben ist aber weltweit gleich hoch. Es geht immer darum, dass ein Mensch die Schaltzentrale seines Lebens an Jesus abgibt. Das ist und bleibt schwer.

pro: Gibt es hier in Sachsen Projekte, die sie für besonders vielversprechend halten?

Lutz Scheufler: Ich setze weniger auf Projekte und Methoden. Ich weiß, dass es letztendlich mit den einzelnen Christen in den Gemeinden los geht. Und da geht eben noch nicht genug los. Mein Hauptproblem bei Evangelisationen ist, dass das Bewusstsein dafür in den Herzen und Köpfen der Christen kaum vorhanden ist. Das ist eine ganz große Not, auch außerhalb der neuen Bundesländer. Bei uns ist keine Retterliebe da! Viele fragen sich: Warum soll ich aus meinen Gemeinderäumen hinaus gehen? Warum soll ich den anderen in ihren Kulturen entgegenkommen? Persönliche Evangelisation ist ein Stiefkind. Da haben wir Nachholbedarf und da muss einiges in den Köpfen passieren. Wir müssen Gott bitten, hier eine Bewusstseinsänderung zu schaffen.

pro: Ist das ein Erbe aus der DDR-Zeit?

Lutz Scheufler: Zu DDR-Zeiten haben viele sich sehr gewünscht, dass man die Möglichkeiten hat, die im Westen da waren. Die große Freiheit in der Öffentlichkeit von Christus zu erzählen. Dann kam die Wende, aber die öffentliche Sprachlosigkeit hat man nicht von jetzt auf gleich ablegen können. Ich wünsche mir ein fortschreitendes Lernen, über den Glauben zu reden. Wir leiden unter großer Sprachlosigkeit in unseren Gemeinden. Auch wenn ich in der Kirche die Worte „Evangelisation“ und „Mission“ wieder verwenden darf, ohne mit Tomaten beworfen zu werden, sind mir kirchliche Verlautbarungen und Synoden zum Thema nicht genug. Es reicht nicht, dass man für Evangelisation ist. Ich frage: Wer tut es? Wenn ich Ihnen sage, dass ich der einzige landeskirchliche Evangelist in den neuen Bundesländern bin und wir allein in Sachsen fünf landeskirchliche Evangelisten zu DDR-Zeiten hatten, dann können Sie erahnen, was ich von den kirchlichen Papieren zu Evangelisation und Mission halte.

pro: Was muss passieren, damit sich etwas ändert?

Lutz Scheufler: Erweckung muss passieren. Wir müssen mehr in der Bibel lesen und kapieren, was in der Bibel steht, nämlich, dass Christus das beste Angebot für die Menschen ist und dass wir andere Menschen diskriminieren, wenn wir ihnen diese gute Botschaft vorenthalten. Wir müssen davon reden, weil nur Jesus Menschen in den Himmel bringt. Das ist der Dreh- und Angelpunkt.

pro: Sie haben selbst ihre Jugend in der DDR verbracht, haben ganz bewusst keine Jugendweihe abgelegt und sind später Christ geworden. Wie war es als Christ in der DDR zu leben?

Lutz Scheufler: Ich bin in Karl-Marx-Stadt geboren. Das ist spannend gewesen. Man war herausgefordert. Ich musste sagen, warum ich Christ bin. Ich musste mich erklären. Das ging spätestens dann los, wenn man nicht zur Jugendweihe wollte. Die jungen Männer mussten sich entscheiden, ob sie zur Armee gehen. Bei Verweigerung bekam man mindestens zwei Jahre Gefängnis. Es gab keinen Zivildienst, aber man konnte Bausoldat sein, hatte also alles das zu tun, was andere Soldaten auch machten, nur schießen mussten wir nicht. Und wir mussten keinen Eid auf den sozialistischen Staat schwören. Wer sich dafür entschieden hat, dem waren einige Wege verbaut. Viele meiner Generation, die heute im kirchlichen Dienst sind, durften deshalb kein Abitur ablegen. Man musste also damit rechnen, Nachteile zu haben und keine Karriere in diesem System machen zu können. Das hat manche jungen Christen sprachfähiger gemacht – sie waren schließlich zu einem Bekenntnis gezwungen. Deshalb sehne ich mich natürlich nicht in so ein totalitäres System zurück. Ich genieße die Freiheit.

pro: War das ein bewussteres Christsein in der DDR?

Lutz Scheufler: Natürlich kann man heute genauso bewusst als Christ leben. Ich meine, es ist heute für junge Leute sogar schwerer. Damals waren die Fronten klar. Wir wussten, wo der Feind stand. Die Verführungen sind heute schwerer auszumachen. Es gab in der DDR allerdings auch schwierige Situationen, wo wir sogar überkonfessionell zusammengeschweißt wurden. Wir haben zum Beispiel bei den Bausoldaten Gottesdienste in der Kaserne gefeiert, obwohl das verboten war. Solche Erlebnisse prägen.

pro: Ihr Vater war SED-Mitglied. Wie hat sich das auf ihr Leben ausgewirkt?

Lutz Scheufler: Ich musste mich natürlich auch zu Hause erklären. Aber mein Vater gehörte zu den Toleranteren. Er hat gesagt: ‚Du musst das selber wissen‘. Dafür ist er nie zur Rechenschaft gezogen worden, wahrscheinlich, weil er nur ein einfacher Proletarier war.

pro: Haben sie aus dieser Zeit etwas für ihre heutige Arbeit mitgenommen?

Lutz Scheufler: Auf jeden Fall. Viele Argumente gegen den Glauben, die junge Menschen heute bringen, sind Argumente, die meine Generation in der Schule gehört hat. Die werden von Generation zu Generation weitergegeben, etwa wenn gesagt wird: ‚Jemand, der an Gott glaubt, ist dumm‘. Das wurde uns damals schon in der Schule erzählt. Das hören Jugendliche im Osten heute von ihren Eltern. Von der neuen Atheismuswelle wird es nachgebetet. So bin ich wieder damit konfrontiert. Ich bin darauf vorbereitet und daher auch dankbar, dass ich diese Vergangenheit hatte und dass Gott mich auf diese Weise geprägt hat.

pro: Was muss sich in den Köpfen der ostdeutschen Christen ändern?

Lutz Scheufler: Sie sollten erkennen, dass der Friedhof zwei Ausgänge hat. Es gibt Himmel und Hölle. Das wird an vielen Orten in Deutschland gar nicht mehr gepredigt. Wenn wir das nicht wissen, wissen wir auch nicht, warum die Menschen gerettet werden müssen.

pro: Was muss sich in den Köpfen der ostdeutschen Atheisten ändern?

Lutz Scheufler: Es gibt Atheisten die sagen: „Ich bin, obwohl ich zweifle, offen für den Glauben.“ Diese Offenheit wünsche ich mir. Dafür bete ich.

pro: Herr Scheufler, vielen Dank für das Gespräch.

Wie Christen in Ostdeutschland Wege finden, ihre Mitmenschen zu erreichen, lesen Sie in der aktuellen und in den kommenden Ausgaben des Christlichen Medienmagazins pro in der Serie „20 Jahre Mauerfall“.

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