20 Jahre Mauerfall: Die halbe Revolution

Am 4. November 1989 fand auf dem Alexanderplatz in Berlin die größte Kundgebung von DDR-Bürgern in der Geschichte dieses Staates statt. Fünf Tage später, am 9. November 1989, fiel die Berliner Mauer. pro-Autor Egmond Prill schreibt über 20 Jahre Friedliche Revolution und Mauerfall - und über Gegenwart und Zukunft im vereinten Deutschland.

Von PRO

"Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und
ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen." Das erklärte Johann Wolfgang
von Goethe im Blick auf die Kanonade von Valmy mit dem Sieg der
französischen Revolutionsarmee über die preußisch-österreichischen
Truppen 1792. Damit bewies der deutsche Dichter ein Gespür für den
Anbruch einer neuen Zeit in Europa. Am Ende waren es Napoleons Armeen,
die Europas Landkarte und Gesellschaften bleibend veränderten. Es war
eine Neuordnung des Kontinents mit Tränen und Blut, mit Kanonen und
Krieg. Wer älter als zwanzig Jahre ist, kann Goethe zitieren und
denselben Satz verwenden. Wobei im Rückblick auf 1989 ergänzt werden
muss: Europas Ordnung änderte sich ohne Blutvergießen und Tote. Vor
allem Deutschland erlebte im Herbst 1989 eine friedliche Revolution.
Höhepunkt war sicher der Mauerfall am 9. November in Berlin. Doch
entscheidend waren die Wochen zuvor, in Berlin, Dresden und Leipzig, in
der Provinz zwischen Ostsee und Erzgebirge.
Ich war am 4. Oktober 1989 in Berlin, in unserer Wohnung in Berlin-Friedrichshain, die wir auch nach dem Umzug ins Erzgebirge behalten hatten. Spät am Abend wurde ich aufmerksam, denn ungewöhnlich starker Straßenlärm drang durch das Fenster. Als ich nach unten ging, sah ich den militärischen Aufmarsch der SED-Staatsmacht in Vorbereitung auf den 7. Oktober, den 40. Jahrestag der DDR-Gründung. Wir wohnten in einer Seitenstraße parallel zur Paradestrecke, der ursprünglichen Stalin-Allee. Gepanzerte Truppenfahrzeuge, nicht für die Parade bestimmt, gingen am 5. Oktober in Bereitstellungsräume, fuhren in Seitenstraßen und besetzten Plätze nahe am Stadtzentrum. Mit Tränen in den Augen, mit Tränen der Angst und der Wut, stand ich am Straßenrand. Andere verfolgten den Aufmarsch vom Fenster aus. Ähnlich soll es in Leipzig und anderen Städten gewesen sein. Die Staatsmacht war vorbereitet für den Fall der Fälle, für jenen Fall, den es am 17. Juni 1953 schon gegeben hatte. Den Aufstand des Volkes. Seit 1953 hatte die DDR-Führung vor allem ein Ziel, einen zweiten Aufstand des eigenen Volkes zu verhindern. Es entstand das perfekteste Spitzelsystem der Welt in Form eines "Ministeriums für Staatssicherheit" mit hunderttausenden großer und kleiner Spitzel. Bespitzelt wurden wir bis hinein in unsere Briefe, unsere Häuser, unsere Gehirne. Es wurde die mörderischste Grenze der Welt installiert – mit Mauer und Minen, mit Stacheldraht und Selbstschussanlagen. 1989 waren allein für das Grenzregime der DDR 1,2 Milliarden Mark im Staatshaushalt vorgesehen. Polizei und Bereitschaftpolizei, Armee und die sogenannten Kampfgruppen der Arbeiterklasse waren nur auf den einen Tag getrimmt: Da nochmals das Volk aufsteht.

Dann stand das Volk noch einmal auf – und es fiel kein Schuss. Es fiel kein Schuss, von keiner Seite. Alle "bewaffneten Organe der DDR" waren scheinbar entwaffnet. Zwar hatten die befehlsgemäß den Finger am Abzug, aber der lebendige Gott hatte längst die Hand am Sicherungshebel jeder Waffe. Kein Schuss ging los und so wurde die DDR plötzlich eine Anekdote der Geschichte. Wie ein Kartenhaus brach zusammen, was Jahrzehnte lang gegen das Volk aufgebaut worden war.

Am 7. Oktober wurde in Berlin noch heftig geknüppelt. Volkspolizisten (in welcher Dienststelle werden diese Leute jetzt vielleicht verbeamtet tätig sein oder schon eine gute Pension beziehen?) gingen hart gegen Demonstranten vor. Vor allem im Bezirk Prenzlauer Berg gab es brutale Übergriffe und Verhaftungen. Dann, am 9. Oktober in Leipzig, war die Lage gespannt wie nie zuvor. Internierungslager und Krankenhäuser waren vorbereitet, doch es geschah das Wunder von Leipzig. Zehntausende auf den Straßen und das Gefühl: Ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.

Mitte Oktober versuchte das SED-Regime mit der Absetzung Honeckers, die Kurve zu nehmen – der neue SED-Generalsekretär Egon Krenz sprach von einer "Wende" – aber es war zu spät. Und wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Das war das geflügelte Wort jener Tage. Mit der tausendfachen Ausreise über Budapest und Prag hatten DDR-Flüchtlinge die Mauer einfach umgangen. Am 9. November 1989 fiel sie schließlich um und der Stacheldrahtkommunismus in sich zusammen. Bis heute ist nicht endgültig geklärt, wer damals was veranlasst hat und wie jene Notiz in die offizielle Pressekonferenz kam, die eigentlich schon beendet war.

Die Mauer fällt

Am 9. November 1989, 18.53 Uhr, verliest das SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski jenen berühmt gewordenen Satz, den das DDR-Fernsehen in der Hauptnachrichtensendung "Aktuelle Kamera" um 19.30 Uhr wiederholt. "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dabei noch die Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen… Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu West-Berlin erfolgen." Auf die Frage eines Journalisten, ab wann die neue Regelung gelte, antwortete Schabowski umgehend: "Das tritt nach meiner Kenntnis –  ist das sofort, unverzüglich." Schon eine Stunde später verlangen die Menschenmassen aus Ost-Berlin die Öffnung der Mauer, um 22.30 Uhr können die Grenzsoldaten die Bornholmer Brücke nicht mehr halten. Um zwei Minuten nach Mitternacht sind laut internem Lagebericht der DDR-Behörden sämtliche Grenzübergänge zum Westen offen. Die Mauer ist nach 28 Jahren gefallen!

Die Geschichte des geteilten Deutschland ging nach genau 40 Jahren zu Ende. Krenz und Gorbatschow, Kohl und Bush und wie alle Leute hießen, die politisch etwas zu sagen hatten – sie erscheinen nur wie Randfiguren einer Geschichte, in deren Mittelpunkt ein Wunder steht. Es war das Wunder der friedlichen Wiedervereinigung eines Volkes, das sichtbar begnadigt worden ist.  Am 9. November 1989 wurde Wirklichkeit, was kaum einer für Deutschland noch erwartet hatte.

Wir wurden Augenzeugen eines Ereignisses, das die Weltgeschichte nur ein einziges Mal zu bieten hat: den restlosen Zusammenbruch eines Systems, das in seiner ganzen Existenz nur ein Ziel hatte: diesen Zusammenbruch zu verhindern. Am 9. November 1989 hämmerten Mauerspechte schon in der ersten Nacht Löcher in den "antifaschistischen Schutzwall".

Dann begann der Weg in die Freiheit. Am 15. November 1989 holte ich als 32-Jähriger im Bürgermeisteramt meinen ersten Reisepass. Ich wurde zu einem Bürger, zu einem freien Menschen. Spätestens mit dem Tag der offiziellen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 stellten sich für die Menschen der ehemaligen DDR viele praktische Fragen: Welche Krankenversicherung ist passend, welche Autoversicherung, welche Automarke, welche Bank? Der "vormundschaftliche Staat" (Rolf Henrich) hatte alles geregelt und bestimmt. Praktisch über Nacht waren Millionen Menschen Bürger in einer freien, aber sehr fremden Welt.

Heute stehen wir vor anderen Fragen. Viele sorgen sich um Einkommen und Auskommen im Zusammenhang mit Arbeit und Rente. Die Suche nach Arbeitsplatz und Ausbildungsstelle für die Kinder verbindet inzwischen die Menschen in Ost und West. Daneben oder darüber stehen grundsätzliche Fragen: Quo vadis Deutschland? Wohin geht dieses Land, die Gesellschaft, das Volk? Wie gestaltet sich die Demokratie im Zeitalter umfassender elektronischer Beobachtung und Terrorangst? Wie werden die Gewichte im Dreiklang von Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit verteilt?

Der Gedanke an materielle Sicherheit gehört zu den Grundanliegen der Menschen. Deshalb waren schon Jäger und Sammler damit beschäftigt, Vorräte für schlechte Zeiten anzulegen und so auch Eigentum zu schaffen. Heute haben wir Konserven im Keller, Geld auf dem Konto und Versicherungen, die Schäden ausgleichen sollen und Sicherheit versprechen. Ging nach der friedlichen Revolution das Denken und Trachten der Menschen zu schnell nach West-Produkten, nur nach Materie? Übrigens "Wende" ist der verharmlosende Begriff der "Wendehälse", der schnell gewendeten Kommunisten. Es war eine echte Revolution, die Beseitigung eines Machtapparates und eines Herrschaftssystems. Im Rückblick der 20 Jahre erscheint es jedoch, als sei nur die halbe Revolution gelungen. Der Sozialismus feiert nicht nur an Wahlsonntagen, sondern mitten in unserem Lebensalltag neue Triumphe. Geistige Erneuerung und Besinnung auf abendländische Werte, vielleicht die Chance zu einer gemeinsamen Verfassung, blieben Anfang der neunziger Jahre auf der Strecke. Hatte sich das Rad der Geschichte zu schnell gedreht? Beim starken Verlangen nach Gütern wurde schnell die Güte Gottes übersehen und die Freiheit als Selbstverständlichkeit genommen. Zu rasch ging es um neue Autos und Möbel, um Reisen und Erlebnisse. Schnell waren die Feuer der Kerzen erloschen, waren die Kirchen wieder leer. Dafür waren die Kaufhäuser voll.

Natürlich: Die großen Gefühle in den ersten Wochen der Freiheit nach dem Mauerfall konnten nicht 20 Jahre lang durchhalten. Die unmittelbare euphorische Dankbarkeit für das Geschehen ist nicht über Jahrzehnte hin zu pflegen. Der Dank für die tägliche Freiheit ist dagegen schon eine Haltung, die bleibend wach gehalten werden kann. Nicht das brave "Dankeschön" wohlerzogener Kinder, sondern der selbstbewusste Dank eines freien Menschen, der sein Leben gestalten darf. Hierher gehört das schlichte "Gott sei Dank", denn es erinnert an den, der Leben schenkt und Freiheit gibt. Hier haben die Kirchen zu schnell aufgegeben. Schon das ängstliche Verweigern des landesweiten Glockengeläuts in der Nacht zum 3. Oktober 1990 war ein Zeichen dafür, dass die Kirche nun wieder hinter ihren Türen verschwindet und sich viel mit sich selbst beschäftigt. Das dankbare und selbstbewusste Auftreten der Christen zerbröselte nahezu zur Bedeutungslosigkeit. Die christliche geprägte Bürgerbewegung versackte und erstarb in Parteien und Institutionen.

Politische Dimensionen

Das Evangelium hatte in den Jahren der DDR für viele eine politische Dimension, die war nicht hineininterpretiert. Die Bibel ist ein politisches Buch. Propheten wetterten im Namen Gottes gegen die Mächtigen, sprachen im Auftrag Gottes für die Schwachen und Ohnmächtigen. Der Psalmdichter schreibt gegen die gewissenlos Herrschenden und bittet Gott: "Zerbrich den Arm des Gottlosen und Bösen und suche seine Bosheit heim, dass man nichts mehr davon finde." (Psalm 10,15).

Freiheit war die Sehnsucht der Millionen hinter dem Eisernen Vorhang, nicht nur in der DDR. Das ist die Sehnsucht der Menschen in heute noch existierenden kommunistischen Systemen. Interessant ist, dass Unfreiheit nur zu oft auch Mangelwirtschaft und Sorge um die täglichen Dinge mit sich bringt. Freiheit bringt immer ein Maß an Unsicherheit. Wer in Freiheit lebt, muss ständig Entscheidungen fällen.

Die DDR-Nostalgiker malen die "Zone" auf Goldgrund. Die Kinderkrippen und Kindergärten waren damals kostenlos und doch oft Orte der ideologischen Erziehung und gottlosen Prägung. Natürlich gab es gute Seiten am SED-Regime. Es war nicht alles schlecht, wirklich! Doch das gesamte System stand auf falschem Grund. Der ganze Zug fuhr in die falsche Richtung.

Trotz der friedlichen Revolution 1989 steht noch eine Hälfte der Revolution aus – die uns alle in Ost und West betrifft. Wir brauchen gültige Werte jenseits des blanken Materialismus, grundlegende Tugenden und neuen (oder alten) Gemeinsinn. Die Botschaft kommt aus dem Mutterland der Freiheit: "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, Frage danach, was du für dein Land tun kannst", sagte John F. Kennedy. Wer es nicht so amerikanisch will, kann an das alte Preußen denken, an Pflichtbewusstsein und Gemeinwohl. Den Begriff einer Leitkultur für unser Land müssen wir nicht scheuen. Christlich geprägte Werte, freiheitlich verankerte Demokratie und soziale Marktwirtschaft passen ausgezeichnet zum Dreieck von Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit in einem Staatsgefüge. Wir brauchen den mündigen Bürger, nicht den zunehmend von einem übermächtigen Staatsapparat alimentierten Einwohner.

Was ist zu tun? Im Dank für die tägliche Freiheit gehören jeden Tag für jeden Bürger wenigstens 20 Minuten der aktiven Beschäftigung mit der Politik. Das können Briefe an Medien und Politiker sein, die Mitarbeit im Bürgerverein oder ein politisches Ehrenamt, sozialer Einsatz oder kommunalpolitische Verantwortung. Politik ist kein schmutziges Geschäft, freilich auch kein diätenfinanzierter Job für wenige, sondern eine Aufgabe für alle. Wir sind das Volk und wir machen Staat! Das fordert von jedem politische Arbeit, Aktivitäten für das Ganze – wie 1988/89 in der DDR. Im Dank für den Mauerfall müssen wir die Geschichte von damals wach halten, müssen Kinder lernen, wer Ulbricht war, was SED-Herrschaft bedeutete. Wer DDR-Erfahrung hat – das können auch Reisende und Besucher aus dem Westen sein – muss nächsten Generationen erzählen, was damals war. Die Schrecken eines Spitzelstaates, die Sorgen um Kleinigkeiten des Alltages, die Sehnsucht nach Bananen kennen Jugendliche von heute nicht. Zur zweiten Hälfte der Revolution gehört es, dass die Nachkommen die Geschichte und die Vorgeschichte erfahren. Es ist die Pflicht der Eltern und Großeltern, ihren Kindern und Enkeln Geschichte zu vermitteln. In besonderer Weise wird bundesweit der 20. Jahrestag der Wiedervereinigung von der "Initiative Nationalfeiertag" vorbereitet (www.3-oktober-gottseidank.de)

Im Dank für die friedliche Revolution sollen Christen anhaltend für unser Land und Volk beten, für die Verantwortlichen in Kirche, Staat und Wirtschaft, was etwa in der Gebetsinitiative www.gott-segne-unser-land.de geschieht. Die Veränderungen in der DDR begannen in kleinen Gebetsgruppen und Hauskreisen. So werden auch im Rückblick auf 1989 und 1990 viele sagen können: "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen."

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