Analyse

100 Tage Papst Leo XIV.

Die katholische Kirche hat alle überrascht. Ein schnelles Konklave wählte einen vergleichsweise jungen Papst aus den USA. Jetzt ist Papst Leo XIV. bereits 100 Tage im Amt. Theologe und Papstkenner Thomas Schirrmacher zieht eine vorläufige Bilanz.
Von PRO
Papst Leo XIV. und Thomas Schirrmacher

Leo XIV. – eine Überraschung, aber keine Verlegenheitslösung

Die katholische Kirche hat alle überrascht. Ein superschnelles Konklave wählte einen vergleichsweise jungen Papst aus den USA, der die katholische Kirche unter normalen Umständen über zwei Jahrzehnte führen kann. Auch wenn er seit 2023 das Dikasterium leitete, das die Bischofsberufungen vorbereitet, und so mehr Macht hatte als gemeinhin angenommen, wurde jemand gewählt, der nicht zu den großen Strippenziehern der Kurie gehörte und von dem die meisten – auch Insider – noch nie gehört hatten.

Er ist keine Verlegenheitslösung, kein Kompromisskandidat, nachdem andere nach mehreren Wahlgängen keine Zweidrittelmehrheit erreicht hatten. Papst Franziskus hatte mir schon kurz vor seinem Tod gesagt, dass er sein Sprüchlein gesagt habe und jetzt ein völlig anderer Charakter nachfolgen müsse, um darauf aufzubauen.

Dass er irgendwo zwischen Benedikt und Franziskus steht, konnte ich schon bei vielen Details der Amtseinführung beobachten. Er läuft seinen Leibwächtern nicht weg wie Franziskus und wirft nicht kurzfristig lange eingespielte Abläufe um. Andererseits bewegt er sich viel ungeschützter und freier als Benedikt es je getan hat. Er lässt seine Texte von seinem großen Team überprüfen, während Franziskus gerade seine sozialpolitischen Schriften gerne selbst schrieb und über deren Bearbeitung nicht begeistert war. Er legt aber nicht die Übergründlichkeit an den Tag, die Benedikt bei allen offiziellen Texten erwartete. Wie Franziskus wird er jedoch eher als politisch „links“ wahrgenommen, was er mit seiner Namenswahl unterstrichen hat, während Benedikt etwa fest an der Seite von Präsident George Bush stand und diesen auch privat zum Geburtstag in den USA besuchte. Franziskus hatte dagegen noch im Januar 2025, kurz vor der Vereidigung von Trump, einen bekannten Kritiker Trumps zum Erzbischof von Washington ernannt, Kardinal Robert W. McElroy

Zum Konklave

Insgesamt gilt aber: Kein Papst war als Papst genauso wie er vorher als Bischof oder Kardinal war. Dazu kommt, dass man über das Leben von Leo XIV. vor seiner Wahl vergleichsweise wenig weiß, weniger als bei irgendeinem Papst der letzten hundert Jahre.

Es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre ein langjähriger Mitstreiter von mir in Sachen Christenverfolgung, ja eher ein Freund, der italienische Kardinal Pietro Parolin (70), Papst geworden. Er war der langjährige Ministerpräsident („Kardinalstaatssekretär“) von Franziskus, der geräuschlos und sehr erfolgreich im Hintergrund wirkte. Er war der Leiter der Papstwahl, Favorit der Vatikanbeobachter sowie des berühmten britischen Wettbüros und erhielt dem Vernehmen nach – offiziell sind solche Auskünfte ja verboten – im ersten Wahlgang wenig überraschend 59 Stimmen und Kardinal Prevost 49.

Daran änderte sich dann wohl auch nicht viel, bis Parolin zurückzog und Prevost im vierten Wahlgang statt der erforderlichen 89 Stimmen „weit über 100“ bekam. Das war schon häufig ähnlich, etwa als bei der Wahl von Benedikt die späteren Päpste Benedikt und Franziskus schon im ersten Wahlgang die meisten Stimmen bekamen und der Weg für Benedikt frei wurde, als Franziskus zurückzog.

Fragen wir kurz: Wird Kardinal Parolin in seinem Amt bleiben? Der Papst hat alle Ämter vorläufig bis September bestätigt und bisher nur sehr wenige Neuernennungen vorgenommen. Alle sind gespannt, ob er im Wesentlichen mit dem Team Franziskus weiter macht oder den ganz neuen personellen Wurf wagt. Parolin und der jetzige Papst Leo haben zwei Jahre eng und gut zusammengearbeitet, inhaltlich trennt sie nicht viel. Ob aber der neue Papst das fortsetzt oder aber es für unglücklich hält, seinen „Gegenkandidaten“ als Nummer zwei zu behalten, werden wir vermutlich Ende September wissen. Für die katholisch-evangelikale Zusammenarbeit in politischen Fragen hinter den Kulissen wäre es jedenfalls bedauerlich, wenn Parolin pensioniert würde.

Vor einigen Jahrzehnten hätte Parolin die Wahl als Italiener sicher gewonnen. Doch Franziskus hat das Konklave von Italien und Europa zum Globalen Süden verschoben, aus dem 57,8 Prozent der wahlberechtigten Kardinäle kommen. Dazu kommen die sehr konservativen Kardinäle aus den USA. 109 Kardinäle, das heißt 80,7 Prozent, wurden von Papst Franziskus ernannt. Beide Spitzenkandidaten im Konklave wurden von Franziskus „gepuscht“: Parolin sowieso, aber auch Prevost. Ihn hatte Franziskus aus einer Art Sackgasse 2014 überraschend zum Bischof in Peru gemacht – in einer sehr ähnlichen Situation wie der damalige Papst in seinem eigenen Leben. Er hatte seinen weiteren Aufstieg befördert, bis er ihn 2023 zum Leiter der Abteilung machte, die die Bischöfe ernennt und versetzt und de facto auch die Kardinalsberufungen vorbereitet. Damit saß Prevost an einer Schaltstelle des Vatikans und genoss das höchste Vertrauen von Franziskus.

Eine Neuheit unter den Päpsten

Papst Leo ist in vielerlei Hinsicht eine Neuheit unter den Päpsten. Er ist „fit wie ein Turnschuh“, wie ich stundenlang aus der Nähe beobachten konnte. Er hat Sport nicht nur ein Leben lang an vielen Orten gefördert, sondern selbst betrieben. Das Fitnessstudio beim Vatikan verliert seinen prominentesten Kunden und der Vatikan hat den ersten Chef, der regelmäßig trainiert und für seine Gesundheit sorgt. Zwar sprach auch Benedikt viele Sprachen und war hochintelligent und hochgebildet, aber Leo geht noch mehr in die Breite. Er kann fünf Sprachen fließend, daneben Deutsch und Latein lesen. Er studierte erst Mathematik und Philosophie (1973–1877), dann Theologie (1978–1982) und dann Kirchenrecht (Promotion 1987). So eine breite Bildung hat bisher kein Papst mitgebracht. Bedenkt man, dass Franziskus akademische Theologie im Gegensatz zu Benedikt für nicht so wichtig hielt und mit Kirchenrecht auf Kriegsfuß stand, ist es erstaunlich, dass ihm jemand folgt, der beides hochhält.

Er hat zudem eine breitere Leitungserfahrung als jeder Papst vor ihm: in Diözesen in Peru, als Provinzial des Augustiner-Ordens in Peru, als Generalprior dieses Ordens von Rom aus mit weltweiter Reisetätigkeit, als Apostolischer Administrator, in der Kurie und schließlich als Leiter der Schaltstelle, über die der Papst die Bischöfe auswählt und mit ihnen zusammenarbeitet. Dass er bei allem gute Organisation liebt, spürt man schon in den ersten 100 Tagen an allen Ecken und Enden des Vatikans.

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Lässt man einmal Wahrheitsfragen beiseite, und stellt einfach die Frage, ob der neue Papst die auseinanderdriftende größte Religionsgemeinschaft und Organisation der Welt zusammenhalten kann, muss man sagen: Wenn es jemand schafft, dann Leo. Denn in seiner Biografie sind alle diese Gegensätze vereint. Er kennt die lokale Situation ebenso wie die weltweite, kennt Gemeindearbeit und Bischofsamt ebenso wie Ordensarbeit und damit die weltweiten Netzwerke der katholischen Kirche, kennt mit Peru und den USA den Globalen Süden und die westliche Welt, hat mit Mathematik und mit Theologie/Kirchenrecht ganz unreligiös und ganz religiös studiert und denken gelernt. All das macht sich bereits jetzt bemerkbar, auch wenn die Frage, wie er sich zu den großen Baustellen der Weltkirche stellt, noch offen ist. Schon jetzt aber ist zu erkennen, dass er den synodalen Weg von Franziskus weiter geht und gleichzeitig wie selbstverständlich damit verbindet, dass Synoden grundsätzliche Lehren und moralische Positionen des Glaubens nicht in Frage stellen können und dürfen. Dabei ist Papst Leo viel weniger charismatisch als Franziskus oder Johannes Paul II., eher wie Benedikt, der allerdings viel älter war. Wer aber daraus schließt, dass er eher ein Manager ist, wird täglich eines Besseren belehrt, denn Leo nimmt sich für Einzelgespräche oft mehr Zeit als Franziskus. Ein Beispiel: Jedes katholische Ehepaar aus der ganzen Welt hat einen Monat ab der Hochzeit das Recht, bei der Generalaudienz des Papstes gesegnet zu werden. Papst Franziskus hat diese Paare zumeist alle gemeinsam gesegnet. Wie ich aus nächster Nähe zwei Stunden lang beobachten und hören konnte, lässt Papst Leo jedes Paar einzeln vortreten, fragt sie, wer sie sind und was ihre Gebetsanliegen sind, und segnet sie dann. Bei etwa 50 Paaren dauerte das lange!

Und die Ökumene?

Wie steht es aber nun um die Ökumene und um das Verhältnis der katholischen Kirche zu den Evangelikalen, das einzige Thema, das ich bisher persönlich mit dem Papst besprochen habe. Benedikt kannte als deutscher Professor und als Vielleser und Polyglott auch alle wichtigen evangelischen Werke deutscher Sprache und damit auch Martin Luther. Letzteren würdigte er mehrfach, vor allem auf seiner Reise nach Wittenberg. Dafür wusste Benedikt über die Evangelikalen fast nichts. In seiner Jesusbiografie zitiert er überwiegend Protestanten, aber auch hier keine Evangelikalen.

Franziskus brachte als Hintergrund seine persönliche Zusammenarbeit mit Evangelikalen und Pfingstlern in Buenos Aires ein. Er kannte keine protestantische Literatur und hatte weniger Interesse an einem theologisch-inhaltlichen Dialog als an sichtbaren Zeichen und an der von ihm sogenannten „Ökumene der Märtyrer“ – die Grundlage meiner Freundschaft mit ihm.

Vom neuen Papst ist nichts zum Thema „Ökumene“ bekannt. Er kann hier zwar Überraschendes hervorbringen, aber nach heutigem Stand fehlen ihm ökumenische Erfahrungen in den USA ebenso wie in Peru oder als Generalprior des Augustinerordens. In den ersten 100 Tagen hat er die Ökumene nicht großartig zum Thema gemacht und seine Besucher waren keine globalen Kirchenführer der protestantischen Seite. Leo nennt sich wohl kaum nach Leo X. (1513–1521), der Martin Luther 1521 exkommunizierte. Aber der erste Eindruck ist, dass das Brückenbauen in politischen Fragen und das Friedenstiften in Kriegs- und Bürgerkriegssituationen Priorität vor Ökumene oder auch Religionsdialog genießt. Wenn überhaupt, geht es um die Beziehung zu den orthodoxen Kirchen und zu den altorientalischen Kirchen, nicht zu den evangelischen oder den evangelikalen.

Da sich derzeit auch die Weltweite Evangelische Allianz und die Lausanner Bewegung vom ökumenischen Dialog verabschieden, befürchte ich, dass die großen Sternstunden der Ökumene, wie das Dokument „Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt“ (2011), vorerst vorbei sind. Gleichzeitig ist Rom derzeit unglaublich attraktiv für junge Leute. Ich habe das mehrfach vor Ort in Rom erlebt, wie viele evangelikale Jugendliche unter den Pilgerströmen sind, für die die Evangelikalen nichts Vergleichbares zu bieten haben. Das erlebte ich auch, als wir beim Weltjugendtag in Lissabon im voll besetzten Stadion ein katholisch-evangelikales Konzert organisierten. Wir planen gerade ein weiteres solches evangelistisches Großkonzert in Rom.

Zum Autor

Der mehrfach promovierte Theologe Thomas Schirrmacher war von 2021 bis 2024 Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA). Bereits zuvor hatte er über viele Jahre verschiedene verantwortliche Postionen in der WEA inne. Er ist außerdem Präsident des Internationalen Rates der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte sowie des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit. Schirrmacher ist darüber hinaus Bischof der internationalen anglikanischen Gemeinschaft Communio Christiana. Mehrfach hat er Papst Franziskus getroffen. Auch an der Familiensynode des Vatikan hat Schirrmacher teilgenommen. Und er war bei der Amtseinführung von Papst Leo XIV. dabei. Für PRO hat er immer wieder Entwicklungen in der katholischen Kirche eingeschätzt.

Die katholische Kirche hängt die Evangelikalen auch im digitalen Wettbewerb ab, vor allem mit einer Heerschar von jungen Influencern in allen Ländern, von denen evangelikale Influencer so oder so viel lernen können. Die größte Herausforderung wird sein, dass die Evangelisation unter Katholiken im Windschatten des 2000-jährigen Jubiläums der Auferstehung Jesu unter dem simplen Namen „2033“ Fahrt aufnimmt. Während viele Pfingstler und Charismatiker in dieser Hinsicht sehr offen für gemeinsame Aktivitäten sind – ein enormer Schwenk der letzten zehn Jahre –, ziehen sich WEA und Lausanne hier fast völlig zurück. Beim letzten katholischen Welttreffen zu „Global 2033“ in Fiuggi, Italien, waren Rick Warren und ich die einzigen nicht-charismatischen Evangelikalen. Als Mitglied im 2033-Beirat von „CHARIS“, dem Dachverband der katholischen Charismatiker im Vatikan, erlebe ich hautnah den evangelistischen Aufbruch im charismatischen Flügel der katholischen Kirche, der eng mit den evangelischen Charismatikern verzahnt ist, aber praktisch ohne Kontakt zu den großen evangelikalen Netzwerken.

Zwei Dinge zu guter Letzt

Kürzlich diskutierte ich mit hochrangigen religiösen Juden über den Papst. Ihre Ablehnung des Papstes begründete sich nicht zuerst auf seine Haltung zu Israel, sondern darauf, dass er viel zu wenig religiös sei. Und tatsächlich kommen in seinen großen Ansprachen zwar viele theologische Elemente vor, zudem häufig die Sakramente und Erfahrungen, aber prinzipiell geht es um das, was alle Menschen bewegt – da kann man schon die Frage stellen, ob das für einen Kirchenführer nicht doch etwas wenig ist. Zu guter Letzt: In der Regel wird bei der Namensgebung „Leo“ eher auf den Thomismus und die Soziallehre als Erbe von Leo XIII. verwiesen – vor allem auf seine Enzyklika „Aeternis patris“ (1879), die Grundlage der Renaissance der thomistischen Philosophie, und „Rerum novarum“ (1891) als Soziallehre, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt stellte, was die heutige zentrale Stellung der Menschenwürde im Menschenrechtsgefüge vordachte. Das ist eine gewichtige Grundlage, für mich als internationale Menschenrechtler sowieso. Aber es führt leicht dazu, dass die Gemeinsamkeiten mit allen Menschen im Mittelpunkt stehen, und nicht das, was den christlichen Glauben im Speziellen ausmacht und ohne das viele gute Werte doch im luftleeren Raum hängen und zu reinen Wünschen werden.

Von: Thomas Schirrmacher

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