Die langen Schatten von Stammheim

18. Oktober 1977 – es ist Herbst in Deutschland, Terrorherbst. In der Nacht hören die Bürger von der Befreiung deutscher Flugzeug-Geiseln in Somalias Hauptstadt Mogadischu. Morgens empfängt sie die Nachricht vom grausigen kollektiven Selbstmord der RAF-Terroristen im Stuttgarter Gefängnis Stammheim.
Von PRO
Blick in den „Hochsicherheitstrakt“: Links, knapp hinter der Person, liegt Zelle 716, wo 1977 Jan-Carl Raspe starb. Hinten links und rechts liegen die Zellen von Baader und Ensslin.

Kaffee, Graubrot und ein gekochtes Ei finden sich auf dem Frühstückswagen, den die beiden Beamten am frühen Morgen in den Zellentrakt im siebten Stock schieben. Doch als sie die Tür mit der Nummer 716 öffnen und ins Halbdunkel blicken, merken sie, dass etwas nicht stimmt: Der Gefangene, der immer früh aufsteht, sitzt auf dem Bett, den Rücken zur Wand. Sein Kopf ist leicht nach rechts gedreht, an der linken Schädelseite rinnt Blut, und der Mann stöhnt – sein Leben ist nicht zu retten.

Es ist 7:41 Uhr am 18. Oktober 1977 im Gefängnis Stuttgart-Stammheim. Genau 40 Jahre sind vergangen: Jan-Carl Raspe, der damals zu den bekanntesten Häftlingen in Deutschland zählt, hat sich mit einer Pistole erschossen. Kurz nach acht Uhr wird das ganze Ausmaß des Dramas deutlich: In der Zelle 719, die letzte, links hinten im Gang, liegt der ebenfalls inhaftierte Andreas Baader mit weit aufgerissenen Augen in seinem Blut auf dem Boden. Der Körper ist kalt, neben dem Kopf finden die Beamten ebenfalls eine Schusswaffe. Hastig schließen sie die Zelle 720 gegenüber im Gang auf: Gudrun Ensslin ist nicht zu sehen, eine Decke verdeckt den Blick zum Zellenfenster – darunter baumeln Füße, am Fensterrahmen hängt ihr Leichnam.

Die Spitze der linksterroristischen „Rote Armee Fraktion“ (RAF) hat „kollektiven Selbstmord“ verübt, so wie es Bandenchef Baader vor acht Tagen gegenüber dem Anstaltsarzt angekündigt hatte. Nur eine hat überlebt, Irmgard Möller: Ihre schweren Stichwunden im Brustbereich sind nicht tödlich.

Oben, unter der Dachterrasse, liegt der frühere „Hochsicherheitstrakt Foto: Christoph Irion
Oben, unter der Dachterrasse, liegt der frühere „Hochsicherheitstrakt“.
Hier starb 1977 Andreas Baader, später wurden in dieser Zelle vier Häftlinge untergebracht. Foto: Christoph Irion
Hier starb 1977 Andreas Baader, später wurden in dieser Zelle vier Häftlinge untergebracht.
Die mehrfach gesicherte Tür zur Zelle 716. 1977 war hier Jan-Carl Raspe untergebracht. Foto: Christoph Irion
Die mehrfach gesicherte Tür zur Zelle 716. 1977 war hier Jan-Carl Raspe untergebracht.
Blick aus dem Fenster der Zelle 720 Richtung Westen: Hier starb Gudrun Ensslin. Foto: Christoph Irion
Blick aus dem Fenster der Zelle 720 Richtung Westen: Hier starb Gudrun Ensslin.

Amtsinspektor Horst Bubeck ist seit drei Jahren als stellvertretender Vollzugsdienstleiter zuständig für die Promi-Häftlinge im siebten Stock. Getreten, geschlagen und beleidigt haben sie ihn. Doch an diesem Tag empfindet er „keinerlei Freude“. Der rätselhafte Tod der Terroristen habe ihn „eher belastet“, erinnert sich Bubeck Jahrzehnte später. Bubeck ist heute 84 Jahre alt.

Der 18. Oktober 1977 ist ein Tag, der tiefe Spuren hinterlassen wird. Millionen Menschen, die an diesem Morgen Frühnachrichten hören, erfahren zunächst noch nichts von den schauerlichen Geschehnissen in Stammheim. Sie hören als erstes eine Nachricht, die für große Erleichterung sorgt: Seit 0:38 Uhr informieren Radiosender darüber, dass die von Palästinensern in einer Lufthansa-Boeing entführten 90 Geiseln in Somalias Hauptstadt Mogadischu „glücklich befreit“ worden sind.

„Die kursierenden Mordtheorien sind schlichtweg Unsinn“

Es ist Herbst in Deutschland – der deutsche Terrorherbst. Die Bundesrepublik gerät in diesen Wochen an den Rand des Staatsnotstands. RAF-Terroristen haben seit dem 5. September Arbeitgeber-Präsident Hanns Martin Schleyer in ihrer Gewalt. Seit dem Frühjahr erlebt das Land eine beispiellose Anschlagserie auf hohe Repräsentanten aus Staat und Wirtschaft. Einst war die RAF mit dem Anspruch aufgetreten, für mehr Gerechtigkeit kämpfen zu wollen.

Doch am Ende sollte das feige Morden vor allem dem „Freipressen“ der Inhaftierten dienen – „big raushole“ nannten die Terroristen ihre Gewaltorgie. Fünf Tage vor der Nacht von Stammheim hat sich die Situation dramatisch zugespitzt. Palästinensische Terroristen solidarisieren sich mit den deutschen „genossen“, sie entführen den Lufthansa-Ferienflieger „Landshut“. Doch SPD-Kanzler Helmut Schmidt, in dessen Krisenstab auch Oppositionsführer Helmut Kohl und CSU-Chef Franz Josef Strauß sitzen, ist überzeugt, dass sich der Staat nicht erpressen lassen darf – er schickt die Antiterroreinheit GSG 9 zur Geiselbefreiung.

Doch der heiße Herbst ist noch nicht vorbei. Am nächsten Tag wird Arbeitgeberpräsident Schleyer im Elsass tot aufgefunden. Und die Todesnacht von Stammheim wird noch lange, dunkle Schatten in die Zukunft werfen: Wie konnten Schusswaffen in das angeblich sicherste Gefängnis Europas gelangen? Wie konnten die Häftlinge, die seit sechs Wochen mit Hilfe des neuen „Kontaktsperregesetzes“ voneinander isoliert sein sollten, Nachrichten hören und miteinander kommunizieren? Und schließlich: Wurden die Inhaftierten in der Todesnacht abgehört? Immer wieder tauchen in den Medien Indizien auf, die diesen Verdacht nahelegen. Der langjährige Grünen-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele (78), damals einer der RAF-Anwälte, hält es sogar nicht für endgültig geklärt, ob die Terroristen wirklich Selbstmord begangen haben.

Die Nacht von Stammheim – sie will nicht vergehen. Mythen, Legenden und Verschwörungstheorien ranken sich um das Geschehen im sogenannten Hochsicherheitstrakt. Der Ex-Vollzugsbeamte Bubeck hält die in der Sympathisanten-Szene kursierenden Mordtheorien und die Abhörvorwürfe „schlichtweg für Unsinn“. Dass es in den Jahren zuvor, während des spektakulären Terroristenprozesses, zu „vereinzelten“ Lauschangriffen gekommen ist, das bestreiten jedoch auch die Behörden nicht.

Bubeck hat im sogenannten Hochsicherheitstrakt vieles hautnah miterlebt. Schon 2003 entlarvte er gegenüber dem Tübinger Journalisten Kurt Oesterle für dessen Buch „Stammheim“ die in den 70er Jahren von RAF-Anwälten und Sympathisanten kultivierte Imagelüge, die Terroristen seien in Stammheim Opfer einer „Isolationsfolter“ gewesen.

„Erdnuss- und Apfelsinenschalen, dazwischen Kleidungsstücke“

Auch andere Quellen belegen längst: Das Gegenteil ist richtig. Wenn man von den Wochen der „Kontaktsperre“ während der Schleyer-Entführung absieht, dann kann man heute sogar zu der Aussage gelangen, dass es in deutschen Gefängnissen nie zuvor Häftlinge gegeben hat, die derart viele Privilegien genossen haben: Männer und Frauen in einem gemeinsamen Trakt untergebracht, jeden Morgen jede Menge Tageszeitungen, dazu Radios, Plattenspieler – und stundenlange Treffmöglichkeiten.

Wer sich die schweren Schlösser zur Zelle 719 aufsperren lässt, der tritt in eine fast 22 Quadratmeter große, kärglich eingerichtete, aber saubere Unterkunft mit kleinen Spindschränken. Rechts von der Tür ist Platz für zwei Doppelbetten mit je zwei Schlafplätzen: Andreas Baader residierte hier allein. Er schlief auf einem szenigen Matratzenlager, an der linken Wand stand ein raumhohes Regal, darin 974 Bücher und 75 Langspielplatten. „Bei Baader lag die gebrauchte Unterwäsche bei den Lebensmitteln“, erinnert sich Bubeck. Es war dunkel, schummrig und muffig. „Auf dem Boden lagen Erdnuss- und Apfelsinenschalen, dazwischen Kleidungsstücke und Kippen“, sagt Bubeck im Rückblick. Und er ist sich sicher: „Das war eine gezielte Dreck- und Ekeltaktik.“ Baaders Absicht sei es gewesen, Inspektionen des Wachpersonals zu erschweren.

Während Baader im Oktober 1977 wie immer genervt ist und jeden in seiner Umgebung „unablässig mit unflätigen Ausdrücken bedenkt“, so Bubeck, wirkt Gudrun Ensslin in diesen letzten Tagen ihres Lebens „flatterhaft“ und „gereizt“.

Die 37-jährige Frau stammt aus einer schwäbischen Pfarrersfamilie. Sie wuchs mit sechs Geschwistern auf. Und die vierte Tochter Gudrun galt als besonders begabt. Mit 13 wollte sie Lehrerin werden. Christliche Werte bedeuteten ihr viel: Sie wurde Gruppenführerin beim Evangelischen Mädchenwerk und hielt für die „Frohschar“ Bibelabende im Gemeindehaus. Als Oberprimanerin ging Ensslin im Rahmen des „Internationalen christlichen Jugendaustausches“ für ein Jahr an eine Highschool in Pennsylvania (USA). Ihre Mutter erinnerte sich später, Gudrun habe noch bis zum 22. Lebensjahr die „Bibelrüste“ des Mädchenwerks auf dem Nachttisch liegen gehabt. Fünf Jahre danach ist die Studentin von der Schwäbischen Alb längst im aufgewühlten Apo-Klima von Westberlin angekommen. Sie ist Mutter eines Sohnes. Und dann lernt sie Andreas Baader kennen. Er ist Schulabbrecher, Autodieb, und er hat eine charismatische Ausstrahlung. Ensslin ist begeistert von dem großspurigen, anarchistischen Typen. Gemeinsam tauchen sie ab – in den bewaffneten Untergrund. Und die intelligente, begabte, selbstbewusste Frau wird dem Rebell verfallen sein. Bis zum Schluss.

Gegenüber Bubeck macht sie im Oktober 1977 Andeutungen über das nahe Ende. Wenn sie aus dem Fenster schaut, nach Westen, dann flieht der Blick in die Weite. Wiesen, Bäume und Felder, ganz nah und ganz fern. Aber das engmaschige Stahlgitter verstellt nicht nur die Aussicht. Mit verquasten Sätzen droht Ensslin indirekt mit Selbstmord: Sie und die anderen Gefangenen, so Ensslin, würden „Schmidt die Entscheidung aus der Hand“ nehmen – „die Entscheidung über uns“.

Geheimnisvoll sagt sie gegenüber zwei Gefängnis-Geistlichen, falls ihr etwas zustoße, sollten sie unbedingt eine „Mappe“ in ihrer Zelle in Sicherheit bringen – die Mappe enthalte wichtige Dokumente für ihre Familie und die Anwälte. Als Horst Bubeck am Tag vor ihrem Freitod zum letzten Mal mit Gudrun Ensslin zusammentrifft, kommt er mit der „orangefarbenen Mappe“ persönlich in Berührung. Auf einem Schmierzettel erhält er Anweisungen, den „Aktendeckel“ später zu holen. Nach dem Tod von Gudrun Ensslin wurde die ominöse Mappe nicht mehr wiedergefunden. Aber Bubeck hatte sie geöffnet und hineingeschaut: „Sie war leer“, berichtet Bubeck: „Ich glaube, Gudrun Ensslin wollte am Schluss eine falsche Fährte legen und hat sie vielleicht im Klo hinuntergespült.“

Andreas Baader – Keine Ausbildung, aber Charisma Foto: (c) dpa - Bildarchiv
Andreas Baader – Keine Ausbildung, aber Charisma

Gudrun Ensslin – Pfarrers-Tochter von der Alb Foto: picture alliance
Gudrun Ensslin – Pfarrers-Tochter von der Alb

Jan-Carl Raspe – Heimlich baute er Sendegeräte Foto: (c) dpa - Bildarchiv
Jan-Carl Raspe – Heimlich baute er Sendegeräte

Von: Christoph Irion

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

Offline, Inhalt evtl. nicht aktuell

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen