„Das Gesicht Anatoliens beruht auf diesem Völkermord“

Waren die Massaker an den Armeniern ein Völkermord? Die türkische Regierung leugnet dies bis heute. Deren Perspektive ist für die Historikerin Christin Pschichholz eine „deutliche Relativierung der eigentlichen Situation“.
Von PRO
Armenier werden 1915 in ein Gefangenenlager deportiert. Der Völkermord an den Armeniern gilt international als historischer Fakt.
Mehr als eine Million christliche Armenier fielen den osmanischen Massakern von 1915/1916 zum Opfer. Am Donnerstag wird der Bundestag vermutlich eine Resolution verabschieden, in der das Verbrechen erstmals als Völkermord bezeichnet wird. Noch am Dienstag setzte der türkische Präsident Erdoğan Bundeskanzlerin Angela Merkel unter Druck: Falls der Bundestag die Resolution verabschiede, würde das die Beziehung zwischen den Ländern verschlechtern. Doch ist es international wirklich umstritten, beim Leid der Armenier von einem Völkermord zu sprechen? pro befragt dazu die Historikerin Christin Pschichholz.

pro: Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim hat kürzlich mit Angela Merkel telefoniert. Er sprach im Zusammenhang mit der Resolution, die das Massaker an den Armeniern als Völkermord einstuft, von „haltlosen und politischen Urteilen“. Hat Yildirim Recht?

Christin Pschichholz: Kurz gesagt: Nein. In der internationalen Forschung wird dieses Thema schon lange unter dem Begriff „Genozid“ verhandelt.

Gibt es aus historischer Sicht Einwände dagegen, von einem Völkermord zu sprechen?

Aus historischer Sicht: Nein. Bei Genoziden – oder Völkermorden – muss eine Intention bestanden haben, eine ganze Bevölkerungsgruppe zu vernichten. Diese Intention ist aus vielen Zusammenhängen für die Jahre 1915/1916 ersichtlich und durch viele Wissenschaftler nachgewiesen.

Die Türkei sieht das anders, vor allem spricht sie von niedrigeren Opferzahlen und anderen Beweggründen.

Das türkische Narrativ sagt, die armenische Bevölkerung sei während des Krieges illoyal geworden, es habe sehr viele Überläufer zur russischen Armee gegeben. Somit sei man zu den Deportationen gezwungen gewesen. Es habe bürgerkriegsähnliche Zustände und damit auch Todesopfer auf allen Seiten gegeben. Das ist aber eine deutliche Relativierung der eigentlichen Geschehnisse.

Warum?

Um ein Beispiel zu nennen: Die armenischen Soldaten, die waren ja Teil der osmanischen Armee, wurden im Frühjahr 1915 bereits entwaffnet. Sie wurden in Arbeitsbataillone gesteckt und dann relativ schnell ermordet. Die osmanischen Dörfer waren dadurch wehrlos. Es waren dann Frauen, Kinder und ältere Männer, die deportiert wurden. Dahinter eine Gefahr einer angeblich illoyalen Bevölkerung zu vermuten, die mit Waffengewalt eine Art Dolchstoß plant, ist schlicht konstruiert.

Es wurden also einzelne Deserteure als Anlass dafür genommen, den Rest der Armenier gleich mit auszuschalten?

Genau. Es war ein Anlass, eine ganze Bevölkerungsgruppe für die militärische Niederlage schuldig zu sprechen. Es gab armenische Deserteure, aber genauso viele türkische. Die Zahlen waren für die osmanische Armee generell sehr hoch, weil die Versorgungslage extrem schlecht war. Die Deportationen waren zudem eine wirtschaftliche Katastrophe für das Land. Die anatolische Landbevölkerung wurde zum Großteil deportiert und die Felder allein gelassen. Sie können sich vorstellen, was das für andere Bevölkerungsgruppen bedeutete: Eine extreme Hungersnot. Viele Menschen starben. Das war den Machthabern allerdings relativ egal.

Trotzdem fordert Ankara eine internationale Historikerkommission, die die damaligen Vorgänge untersuchen soll. Dafür will die Türkei angeblich auch ihre Archive öffnen. Ist das sinnvoll?

Naja, das ist natürlich eine politische Forderung, indem die Türkei eine gewisse Bereitschaft zeigen möchte, sich diesem Thema anzunähern. Allerdings fragt man sich dabei schon, was internationale Wissenschaftler seit 20 Jahren getan haben. Erfreulich wäre aber die Öffnung von bisher nicht zugänglichen Archiven. Das betrifft Staatsarchive in Istanbul und Ankara, besonders die darin enthaltenen Militärakten. Da würden sicherlich Details bekannt werden, von denen wir bisher noch nicht wissen, obwohl wir bereits durch Forschungen türkischer Wissenschaftler in den Provinzarchiven ein sehr detailreiches Bild von dem Genozid haben.

„Christen galten als Agenten fremder Mächte“

Könnte sich durch die Öffnung der Archive das Bild über die Geschehnisse grundsätzlich ändern?

Radikal ändern wird sich das Bild nicht. Allerdings könnten wir mehr über die Übergangsphase des Sommers 1915 in den Grenzgebieten erfahren. Diese Übergangsphase von militärischer Krise, einzelnen Massakern an der armenischen Bevölkerung hin zu den genozidalen Deportationen wäre hinsichtlich der Konstruktion der Entscheidungsfindung des Komitees für Einheit und Fortschritt (Regierungspartei während des Genozids an den Armeniern, d. Red.) interessant.

Es gehört zu Kriegen, dass Menschen sterben – natürlich auch im 1. Weltkrieg. Ab wann aber spricht man von einem Völkermord?

Im Osmanischen Reich kam es zu einer genozidalen Entwicklung aufgrund einer Ideologie, die es schon vor dem Krieg gab. Der osmanische Innenminister Talat Paşa formulierte einmal das Ziel eines „türkischen Heimatlandes“. Christen galten in dieser Vorstellung als illoyal und Agenten fremder Mächte. Der Krieg radikalisierte die osmanische Führung nochmals.

Mussten die Armenier sterben, weil sie Armenier waren oder weil sie Christen waren?

Die frühere Forschung hat die religiöse Feindschaft stärker betont. Man ging stärker von einem fundamentalen Hass gegen Christen aus, die die Gewalt bestärkt hätten. Dadurch wurde die mögliche Kontinuität von den Massakern an den Armeniern, die bereits vor dem 1. Weltkrieg verübt wurden, bis hin zum Genozid 1915/1916 stärker betont. Die heutige Forschung ist da differenzierter. Sie sieht den Völkermord stärker als Reaktion auf die militärische Krise des Osmanischen Reichs im 1. Weltkrieg. Allerdings wurden religiöse Spannungen vom Komitee für Einheit und Fortschritt genutzt, indem etwa ehemalige muslimische Flüchtlinge aus Südosteuropa in den Sondereinheiten eingesetzt wurden.

Ist dieser homogene Nationalstaat die heutige Türkei?

Die Türkei besteht immer noch aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die zum Teil einem starken Assimilierungsdruck ausgesetzt sind. Unübersehbar ist aktuell schwierige Lage der kurdischen Bevölkerung, die übrigens ganz direkt zusammenhängt mit der radikalen Bevölkerungspolitik während des 1. Weltkrieges.

War dieser Völkermord also notwendig dafür, dass das Osmanische Reich einen türkischen Nationalstaat schaffen konnte, wie es ihn heute gibt?

Das Gesicht Anatoliens beruht auf diesem Völkermord und der radikalen Politik gegenüber verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Die türkische Soziologin Fatma Müge Göçek hat festgestellt, dass die Nicht-Aufarbeitung dieser Politik ein Grund für die mangelnde Demokratisierung des Landes und den schwierigen Umgang mit Minderheiten ist.

Das Europäische Parlament hat bereits 1987 von einem Völkermord gesprochen, Länder wie Frankreich, Russland, Schweden oder die Schweiz haben längst entsprechende Resolutionen verabschiedet. Warum braucht ausgerechnet der Deutsche Bundestag so lange dazu?

Das Nato-Bündnis mit der Türkei ist sicherlich einerseits ein wichtiger Punkt. Diplomatische Spannungen sollten vermieden werden. Andererseits ist dieses Thema nicht sonderlich verankert in unserem Bildungssystem, in den Schulen und an den Universitäten und somit auch lange nicht in der deutschen Öffentlichkeit. Die Sensibilität für dieses Thema fehlte lange Zeit. Der Fokus liegt auf dem 2. Weltkrieg. Der 1. Weltkrieg wurde lange vernachlässigt. Dadurch hat es lange gebraucht, den Völkermord an den Armeniern auch als ein Teil europäischer und auch deutscher Geschichte wahrzunehmen.

Manche Stimmen sagen, Deutschland trage eine Mitverantwortung an dem Genozid.

Einige Publizisten haben die deutsche Rolle sehr zugespitzt, als „Beihilfe“ benannt. In der Wissenschaft formuliert man da zurückhaltender und differenzierter. Dennoch waren diese Äußerungen sehr wichtig, da sie das Thema stark in das öffentliche Interesse gerückt haben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Nicolai Franz. (pro)
https://www.pro-medienmagazin.de/politik/detailansicht/aktuell/kritik-an-imam-importen-aus-der-tuerkei-95852/
https://www.pro-medienmagazin.de/journalismus/detailansicht/aktuell/die-eu-ist-der-tuerkei-beigetreten-95750/
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