Bassam Tibi: „Multikulturelle, wertebeliebige Gesinnungsethik“

Der Politologe Bassam Tibi ist Deutschlands bekanntester Islam-Experte und erfand den Begriff "Europäische Leitkultur". Im Oktober kündigte der gebürtige Syrer an, Deutschland zu verlassen. In einem Kommentar in der "Welt am Sonntag" begründete Tibi seinen Entschluss.
Von PRO

In Deutschland herrsche, insbesondere unter den Intellektuellen, „eine Postmoderne der Zensur und des Verschweigens der Produkte unbequemer Andersdenkender“, schreibt Bassam Tibi. Von Journalisten werde gegen ihn der Vorwurf erhoben, „semi-wissenschaftlich“ zu sein, andere verschwiegen seine Veröffentlichungen. „Meine Bücher über die islamische und islamistische Herausforderung an Europa werden nicht mehr gelesen, weil sie von den Feuilletons verschwiegen werden.“ Tibi schreibt: „Deutschlands Intellektuelle verraten Europa.“

„Leitkultur“ für politisch inkorrekt befunden

Zudem erhebt Tibi, der seit 1962 in Deutschland lebt, schwere Vorwürfe auch gegenüber Politikern. „Seit den 80er Jahren kämpfe ich für kulturelle Integration (nicht für Assimilation), seit 1992 für einen europäischen Islam und seit 1998 für eine europäische Leitkultur. Der Begriff ‚Leitkultur‘ wurde zunächst von CDU-Politikern aufgegriffen, dann für politisch inkorrekt befunden, und nun bin ich – etwa beim Integrationsgipfel mit CDU-Innenminister Wolfgang Schäuble – Persona non grata.

Ich begründete die Islamologie an der Universität Göttingen, und nun wird sie mit Duldung des CDU-Ministerpräsidenten Christian Wulff abgeschafft. Diese CDU-Politiker sind nicht besser als die deutschen Linksintellektuellen, die mich als Autor totschweigen. Ich war der erste Muslim, der in die Wertekommission der CDU berufen wurde; nach ernüchternden Erfahrungen trat ich mit einem Brief an Frau Merkel aus“, schreibt Bassam Tibi.

„Europa gegen jeden Totalitarismus schützen“

Er habe von dem Philosophen Max Horkheimer gelernt, Europa als „eine Insel räumlich und zeitlich (…) im Ozean der Gewaltherrschaft“ zu schätzen. Es sei „Recht und Pflicht jedes Denkenden“, Europa „gegen jeden Totalitarismus“ zu schützen. „Ich vermisse diesen Geist heute in Deutschland“, attestiert Tibi.

„Wertebeliebige Gesinnungsethik“

In Deutschland und Europa sei es daher an der Zeit, eine Wertebeliebigkeit aufzugeben. „Als der Filmemacher Theo van Gogh in Amsterdam unter dem Vorwurf des Unglaubens von einem global vernetzten Islamisten (keinem Einzeltäter, wie deutsche Feuilletonisten mildernd schrieben) öffentlich hingerichtet wurde, befestigte der Mörder Mohammed Bouyeri mit seinem Messer einen Brief an der Leiche mit der Warnung: ‚Europa, jetzt bist Du dran‘. In den Niederlanden erwachte die ganze Nation und revidierte ihre bisherige multikulturelle, wertebeliebige Gesinnungsethik.“

Deutschland jedoch sei „wehrlos gegen seine Feinde, abwehrend gegen seine Freunde“, so Tibi. Dies aber sei „nicht das Versprechen Europas“.

Bereits im Oktober dieses Jahres hatte Tibi angekündigt, Deutschland zu verlassen und in die USA überzusiedeln. „Ich habe es aufgegeben“, so Tibi auf einer Podiumsdiskussion in Berlin. Bei der Debatte um Integration werde das Thema Werte ausgeblendet. Diese bildeten aber den Kern der Leitkulturdebatte, lautete wiederholt ein Vorwurf Tibis.

Der in Damaskus geborene 62-jährige Islamforscher erhielt vor mehr als 30 Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit und legte die syrische ab. Tibi ist Professor für Internationale Beziehungen an der Georg-August-Universität Göttingen. Zuletzt veröffentlichte er das Buch „Mit dem Kopftuch nach Europa? Die Türkei auf dem Weg in die Europäische Union“.

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