Kinder heute: Zwischen Unterschicht und Familienglück

Zwanzig Prozent aller deutschen Kinder fühlen sich benachteiligt. Das ist das Ergebnis einer "World Vision"-Studie unter 6- bis 11-Jährigen. Schuld daran ist vor allem der Migrationshintergrund vieler Kinder. Glücklich macht sie aber ihr familiäres Umfeld: Trotz hoher Scheidungsquote und vielen Alleinerziehenden loben die Jüngsten ihre Eltern.

Von PRO

Die große Mehrheit der 2.529 befragten Kinder ist mit ihren Lebensverhältnissen in Familie, Freizeit, Freundeskreis und Schule zufrieden und fühlt sich wohl. Probleme gibt es dennoch: Die "Kinderstudie 2010" zeigt, dass soziale Unterschiede schon ab dem Grundschulalter wirken. Neun Prozent der Kinder entstammen der untersten Herkunftsschicht, 76 Prozent der Mittelschicht und 15 Prozent der Oberschicht. Eine niedrige soziale Herkunftsschicht, ein alleinerziehender Elternteil sowie fehlende Integration der Eltern in den Arbeitsmarkt sind die klassischen Risikofaktoren für ein Aufwachsen in Armut. Fast die Hälfte der Kinder der Unterschicht hat einen Migrationshintergrund. Das hat vor allem Auswirkungen auf die Freizeitgestaltung: Je gehobener die Schicht, desto häufiger und vielfältiger ist die Teilhabe der Kinder an gesellschaftlichen Aktivitäten.

Das Ende der klassischen Familie

Die Studie weist auf das Ende der klassischen Familienstrukturen hin: Mehr als ein Fünftel der befragten Kinder wächst nicht zusammen mit beiden leiblichen Elternteilen auf. Mit 40 Prozent lebt inzwischen nur noch die Minderheit der Kinder in einer traditionellen "Ein-Mann-Verdiener"-Familie. Bei 51 Prozent der Befragten sind beide Elternteile oder der alleinerziehende Elternteil regelmäßig  erwerbstätig. 66 Prozent der Alleinerziehenden sind erwerbstätig. 31 Prozent der Kinder von erwerbstätigen Alleinerziehenden wünschen sich mehr Zuwendung. Zu wenig Aufmerksamkeit erhalten nach eigenen Angaben aber auch jene Kinder, deren Eltern nicht arbeiten – ganze 30 Prozent.

Die große Mehrheit der Kinder in Deutschland hat eine äußerst positive Meinung von ihren Müttern und Vätern und lobt deren Bereitschaft, sie mitbestimmen zu lassen. Demgegenüber ist die Zufriedenheit mit den Grundschulen spürbar geringer. Dort möchten die Kinder genauso viel Einfluss auf die Gestaltung des Alltags ausüben, fühlen sich aber durch enge Vorgaben zu eingeschränkt.

Insgesamt haben 26 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund. Am häufigsten kommen die Eltern aus der Türkei, aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, aus Russland oder aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion, gefolgt von Griechenland, Italien sowie dem sonstigen Osteuropa. 73 Prozent der Kinder in Deutschland besuchen selten oder nie einen Gottesdienst. Im Osten Deutschlands sind es sogar 94 Prozent. Einheimische deutsche Kinder und Kinder mit Migrationshintergrund unterscheiden sich nur geringfügig im Hinblick auf den Besuch von Gottesdiensten.

Mediennutzung – eine Frage der Schicht

Die Nutzung von Medien ist für Kinder hingegen ein selbstverständlicher Teil des Alltags geworden. 43 Prozent der Kinder aus der unteren Mittelschicht haben einen Fernseher, 41 Prozent Spielkonsolen in ihren Kinderzimmern. CD-Player sind hingegen häufiger bei Kindern aus den gehobenen Schichten zu finden. In jedem achten Kinderzimmer in der Unterschicht ist kein einziges dieser Mediengeräte zu finden – möglicherweise eine Folge der finanziellen Situation vieler Eltern. Bei Kindern aus den oberen Schichten hat jedes fünfte ein TV-Gerät oder eine Konsole im Kinderzimmer. 28 Prozent der Kinder aus der untersten Herkunftsschicht berichten, regelmäßig am Tag mehr als zwei Stunden fernzusehen. Bei Kindern aus den gehobenen Schichten trifft dies nur auf rund 6 Prozent zu.

Klare Regeln im Umgang mit dem Computerspielen und Fernsehen zu Hause gibt es in drei Viertel der Familien. Der Medienumgang ist auch abhängig vom Geschlecht: 73 Prozent der Mädchen geben an, dass es in ihren Familien klare Regeln für den Umgang mit Computern oder Fernsehern gibt – bei den Jungen sind es vier Prozent mehr. 42 Prozent der Jungen lesen selten oder nie in ihrer Freizeit. Von den Mädchen berichten dies nur 25 Prozent. 45 Prozent der Jungen im Vergleich zu 62 Prozent der Mädchen lesen regelmäßig, mehrfach in der Woche oder täglich. Auch hier gilt: Je gehobener die Herkunft, desto selbstverständlicher ist es für die Kinder, in ihrer Freizeit zu lesen.

"Armut grenzt aus"

Die "World Vision"-Kinderstudie wurde zum zweiten Mal erhoben. Beteiligt sind das Sozialforschungsinstitut "TNS Infratest", der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann und die Kindheitsforscherin Sabine Andresen. Hurrelmann erklärte bei der Veröffentlichung der Studie am Dienstag: "Es ist erschreckend zu sehen, wie sich schon in Deutschland eine Vier-Fünftel-Kindergesellschaft herausbildet. Die Kinder aus dem benachteiligten unteren Fünftel sehen ihre Zukunft negativ und trauen sich keine erfolgreiche Schullaufbahn zu. Es fehlt ihnen an Rückhalt, an Anregungen und an gezielter Förderung. In der Konsequenz ist der Alltag dieser Kinder bei einem größeren Teil einseitig auf Fernsehen oder auf sonstigen Medienkonsum ausgerichtet. Jungen sind hierfür besonders anfällig. Demgegenüber sind die Mädchen widerstandsfähiger und lernbereiter. Hier deutet sich ein großer Umbruch im künftigen Geschlechtsverhältnis an."

Andresen kommentierte: "Armut grenzt aus, und dies erleben die Kinder auch so in ihrem Alltag." Christoph Waffenschmidt, Vorstandsvorsitzender von World Vision Deutschland, nutzte den Anlass für einen Appell: "Wir dürfen nicht zulassen, dass Kinder aufgrund ihrer sozialen Herkunft beruflich und sozial ins Abseits geraten. Es muss in unser aller Interesse liegen, selbstsichere, lebensfrohe und kluge Kinder heranzuziehen, die als Erwachsene eine Stütze für unseren Staat, die Wirtschaft und die Gesellschaft sind." (pro)

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