Jugendliche und Medien: Was ist noch tabu?

Jugendliche wachsen in einer Welt auf, in der kaum noch ein Thema tabu ist: In Talkshows reden Gäste über intimste Details, im Internet gibt es kaum noch Tabus. Was bedeutet dies für den Jugendmedienschutz? Auf der Tagung "Tabubruch, Medienexhibitionismus und Jugendkultur", die ARD, ZDF und die beiden Kirchen in Hamburg veranstalteten, suchten Experten nach Antworten. 
Von PRO

"Tabubrüche dienen dazu, ein Thema in die öffentliche Diskussion zu bringen", sagte Professor Joachim von Gottberg, Leiter der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen. Medien hätten zu allen Zeiten Tabus gebrochen und damit auch öffentliche Empörung hervorgerufen. Über Tabubrüche werde diskutiert, über das normale Programm rede kaum jemand. Heutzutage dienten Tabus vor allem dazu, Quote zu machen. Als Beispiel nannte er TV-Formate wie "Das Dschungelcamp" oder "Deutschland sucht den Superstar".

Von Gottberg erinnerte auch daran, dass Tabus abhängig von der jeweiligen Kultur und Zeit sind. Gerade deshalb sei es wichtig, dass Medienmacher, aber auch Pädagogen und Eltern zu ihren Werten stehen und  diese gegenüber Heranwachsenden auch begründen könnten. Dabei spielen öffentliche Diskussionen durchaus eine wichtige Rolle: "Wir brauchen den öffentliche Diskurs, um immer wieder neu festzulegen, welche Werte noch Gültigkeit haben", davon ist von Gottberg überzeugt.

Jugendsexualität durch Internet kaum verändert

Ähnlich beurteilt dies auch Dagmar Hoffmann, Professorin für Medien und Kommunikation an der Universität Siegen. Ihrer Ansicht nach tun Buchautoren wie Charlotte Roche der Gesellschaft gut, weil diese Anlass geben, die Grenzen von Moral und Intimität neu zu definieren.

Hoffmann betreut unter anderem das Forschungsprojekt "Die Inszenierung von Nacktheit und Sexualität in Film und Fernsehen – Mediale Aneignungsprozesse von Jugendlichen". Sie wertete die Befragungen von über 30 Jugendlichen zu Sexualitätsdarstellungen in Film und Fernsehprogrammen aus. Dabei stellte sie fest, dass Jugendliche in Fernsehen, Werbung und Internet oft auf Nacktheit und Erotik treffen und dies als normales Phänomen hinnehmen. "Inszenierte Sexualität spricht junge Menschen nicht prinzipiell an", so die Medienwissenschaftlerin. Sie warnt allerdings davor, Heranwachsende mit Etiketten wie "Generation Porno" zu versehen. Jugendsexualität habe sich seit Jahren kaum verändert: Im Durchschnitt hätten Jugendliche mit 15,8 Jahren ihren ersten Geschlechtsverkehr. Wie die Gesellschaft mit Sexualität umgehe, sei vor allem Ausdruck der Kultur und der Zeit, Jugendliche seien dem ausgesetzt. Sie äußerten aber durchaus Schamgefühle und gaben bei der Befragung auch an, dass sie viele Bilder gar nicht sehen wollten.

"Selbstinszenierung der Normalfall"

Im Internet, aber auch in gewissen Fernsehformaten, spielt die Selbstdarstellung eine wichtige Rolle. Vor allem junge Menschen nutzen die Medien, um sich zu "inszenieren", um "Aufmerksamkeit und Beachtung zu bekommen", davon ist Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, überzeugt. "Heute fragen sich Internetnutzer zuerst, wie sie in der Öffentlichkeit wirken, wie das, was sie von sich preisgeben, bei anderen ankommt." Die Inszenierung sei der kommunikative Normalfall, immerhin lasse sich fast jede Lebensregung medial aufbereiten. Auch die von vielen so wichtig erachtete Authentizität sei nichts anderes als eine Form der Inszenierung. "Die Frage nach Image und Öffentlichkeitswirkung stellten sich früher Politiker und Schauspieler, die dazu von Medienprofis beraten wurden. Heute ist die Welt voller ‚Fame-Junkies‘, die alles dafür geben, gesehen zu werden – ob im Internet oder in Talksendungen", sagte Pörksen.

Jugendliche selbst meinen, dass sie genau zwischen realen und inszenierten Inhalten unterscheiden. Für viele spielt dies auch bei der Bewertung von Inhalten eine große Rolle. So gaben Jugendliche und junge Erwachsene in der ZDF-Studie "Medien und Tabus" an, sie seien bei Gewaltszenen stärker berührt, wenn diese real seien oder wenn sie die Betroffenen kennen würden. In Computerspielen oder wenn es sich um unbekannte Personen handele, fänden sie dagegen Videos, in denen geprügelt werde, nicht so schlimm. Die ZDF-Studie zeigt, dass ein Großteil der befragten Mädchen und Jungen bereits Kontakt mit Tabu-Inhalten im Internet hatte. Jeder fünfte Junge findet es gut, dass es im Internet keine Tabus gibt. 13 Prozent der jungen Männer hatten sogar Kontakt zu kinderpornografischem Material.

Deutlichstes Ergebnis waren die Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Umgang mit verletzenden oder unangenehmen Internetinhalten. Mädchen entziehen sich verletzenden Inhalten und verarbeiten Gewalt oder Pornografie eher durch Gespräche mit anderen. Jungen, die im realen Umfeld mehr Gewalt erleben, tendieren dazu, sich in den Medien, beispielsweise Computerspielen, mit dem Thema auseinanderzusetzen. Insgesamt ergab die Studie, dass junge Frauen dem Internet kritischer und zurückhaltender gegenüberstehen als junge Männer.

Medienmacher in der Verantwortung

"Je mehr Jugendliche mit Tabus konfrontiert werden, desto wichtiger ist es, dass Erwachsene Grenzen setzen", sagte der Intendant des Norddeutschen Rundfunks, Lutz Marmor. Die Toleranz gegenüber Tabubrüchen finde ihre Beschränkung in der Verpflichtung, die Würde anderer zu achten. "Die Vermittlung von Werten ist umso wichtiger, je vielfältiger und unkontrollierter die Medien werden."   

Für Markus Bräuer, den Medienbeauftragten der EKD, ist die Frage ungelöst, wie sich die Erkenntnisse des Jugendmedienschutzes in bildungsferne Familien transportieren lassen. "Das sind Familien, bei denen ARD und ZDF nicht die beiden ersten Tasten der Fernbedienung belegen", sagte Bräuer. Er forderte die Medienmacher dazu auf, eine Kultur der Achtsamkeit zu fördern.

Auch der NDR-Intendant rief die Medienmacher zu mehr Verantwortung auf: "Wir müssen uns in unserer täglichen Arbeit stets aufs Neue fragen, was zulässig ist und was nicht. Und wie wir die Realität abbilden und einordnen." Der beste Jugendschutz seien altersgerechte und interessante Angebote für Kinder und Jugendliche. (pro)

http://unternehmen.zdf.de/fileadmin/files/Download_Dokumente/DD_Engagement/ZDF_Grundlagenstudie_Medien_und_Tabus_April_2010.pdf
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