Meinung

Netflix-Doku: „Sei lieb – Bete und gehorche“

Die Aufnahmen könnten aus einer altehrwürdigen freikirchlichen Gemeinde stammen. Doch die Netflix-Doku-Reihe „Sei lieb – Bete und gehorche“ beleuchtet die erschütternden Verhältnisse bei der „Fundamentalistischen Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ in Texas, einer Abspaltung der Mormonen.
Von Jörn Schumacher

Die „Fundamentalist Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints“, kurz FLDS, ist eine Abspaltung der Mormonen. Ursprünglich war sie, wie viele Mormonische Gemeinden, im US-Bundesstaat Utah angesiedelt, in den 2000ern zog die FLDS nach Texas. Wohl auch aus Angst vor dem öffentlichen Trubel durch die Olympischen Spiele, die 2002 in Salt Lake City abgehalten wurden.

In der Netflix-Dokumentation „Sei lieb – Bete und gehorche“, die vier Teile umfasst, bekommt der Zuschauer einen Einblick in die Verhältnisse hinter den Mauern der abgeschottet lebenden, religiösen Gemeinschaft. Vordergründig geht es der Gemeinschaft und den Leitern um das Ausleben einer – wenn auch mitunter etwas altmodisch anmutenden – Religion. In Wahrheit aber stehen sexueller und geistlicher Missbrauch im Vordergrund. Menschen, die den Ausstieg aus der Sekte geschafft haben, berichten in dieser Doku-Reihe, was ihnen passiert ist und was Behörden versucht haben, um dem kriminellen Treiben Einhalt zu gebieten. Die vierteilige sehenswerte Dokumentation legt Prinzipien des religiösen und geistlichen Missbrauchs in religiösen Gemeinschaften par excellence offen.

Im Mittelpunkt der Dokureihe stehen der Leiter der Fundamentalist Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints und seine Verbrechen. Viele Aufnahmen könnten auch in einer anderen Mormonenkirche oder sogar in einer Freikirche aufgenommen worden sein, die Mitglieder gehen zur Kirche, singen christliche Lieder, sie beten und sehen in der Welt da draußen vor allem Gefahren. Der wichtigste Unterschied zu anderen Mormonen: die FLDS erlaubt nicht nur, sondern gebietet sogar Polygynie. Das ist die Eheform, bei der es einem Mann gestattet ist, mehr als eine Frau zu heiraten, im Unterschied dazu erlaubt die Polygamie auch Frauen die Ehe mit anderen Männern.

Vielehe als „höchster Grad des Königreiches“

Auch wenn der Name der FLDS so klingt, mit evangelikalen Christen hat die Kirche wenig gemein. „Man nannte sie nur ‚Die Fundamentalisten“, sagen ehemalige Angehörige. Die Abspaltung von den restlichen Mormonen fand vor 100 Jahren statt, als die mormonische Hauptkirche Polygamie verbot. Die Mitglieder der FLDS sind stolz darauf, besonders fundamentalistisch zu sein, und sie sehen in der Kirche einen, wenn nicht den einzigen Weg, selig zu werden. Ein Mitglied sagt in der Doku: „Wer die höchste Erlösung erlangen will, muss nach diesen Prinzipen leben.“ Und dazu gehöre wesentlich auch die Polygynie. Die Kirche lehre sogar: „Die Vielehe war eine der wichtigsten Lehren von Jesus Christus.“ Um den „höchsten Grad des Königreiches“ zu erlangen, müsse ein Mann mindestens drei Frauen geehelicht haben. Je mehr Frauen ein Mann habe, desto höher sei seine religiöse Bedeutung. „Wir glaubten, dass wir das einzige auserwählte Volk Gottes auf der Erde sind“, sagt ein ehemaliges Mitglied. Religiöse Freiheit wird in den USA zwar hochgehalten, aber Polygamie ist illegal.

Das Kirchenoberhaupt Rulon Jeffs galt als unsterblich. Er hatte gewöhnlich 23 Frauen und mehr – teilweise 19-Jährige. Und die waren, was Ehe und Sexualität angeht, völlig unerfahren und unaufgeklärt. Von ihm stammt auch der Satz, der zum Titel der Serie wurde: „Sei lieb – Bete und gehorche“ („Keep Sweet: Pray and Obey“ im englischsprachigen Original). Als er 2002 starb, hatte er 65 Ehefrauen. Ehemalige Ehefrauen berichten von sexuellem Missbrauch.

Sein Nachfolger Warren Jeffs, sein Sohn, nutzte seine Macht als religiöses Oberhaupt noch schlimmer aus. Er gab sich als sein wiedergeborener Vater aus, heiratete sieben der Ehefrauen seines Vaters – also sozusagen seine Mütter. Im Film ist ein Kirchenchor zu sehen, der singt: „Onkel Warrens Soldaten marschieren für uns in den Krieg, mit dem Kreuz Jesu, dass sie vor sich her tragen. Christus, unser treuer Herr, führt uns gegen den Feind.“ Unter der Leitung von Warren Jeffs wurde Angst das Werkzeug seiner Macht. Jeffs kontrollierte auch die Firmen der Kirchenmitglieder, die praktisch ohne Lohn arbeiteten. Unzählige billige Arbeitskräfte standen zur Verfügung, Millionen Dollar nahm der geistliche Leiter monatlich ein. Ein Privatdetektiv sagt: „Die FLDS sind die größten Menschenhändler der USA.“

Die jungen Mädchen, die gegen ihren Willen mit den älteren Männern verheiratet wurden, wollten in allem den Willen Gottes suchen. Heute sind sie traumatisiert. Kaum ein Mädchen traut sich, die Gemeinschaft zu verlassen. Sie wurden in die Sekte hineingeboren und kennen nichts anderes. Schon beim bloßen Gedanken an Flucht stellt sich bei ihnen ein Schuldgefühl gegenüber Gott ein. Jeffs baute ein neues Areal, in dem die Sekte ohne äußerlichen Einfluss agieren kann und nannte den Ort „Zion“, es gleicht einer Festung mit unzähligen Überwachungskameras, vor allem um seine Kirchenmitglieder zu überwachen und unter Druck setzen zu können. Männer, die ihm in die Quere kommen, entlässt Jeffs, von den restlichen fordert er unbedingten Gehorsam. Er zerriss Familienbande, die seit Jahrzehnten bestanden hatten, manch einem der ehemaligen Mitglieder der Kirche berichtet, dass Jeffs ihnen geradezu satanisch vorkam.

Die Dokumentation „Sei lieb – Bete und gehorche“ (Originaltitel: „Keep Sweet: Pray and Obey“) läuft seit dem 8. Juni in einer deutsch synchronisierten Fassung auf Netflix.

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3 Antworten

  1. Es ist doch aber schade, dass die Medien immer nur auf der Suche nach dem Extremen, Skandalisierbaren, sind.

    Wo bleibt die ausgewogene Berichterstattung, die das ganze (meist positive) religiöse Spektrum der Öffentlichkeit bekannt macht?

    Jürgen Mette hatte auf einseitige und unfaire Darstellungen, in verschiedenen Medien, z.B. im SWR, schon hingewiesen,
    https://www.pro-medienmagazin.de/man-kann-sich-ueber-unfaire-medien-aergern-man-muss-aber-nicht/

    hier ein Auszug:
    „Düstere Musik unterstreicht die augenscheinliche Gefahr, die von den Frommen ausgeht.

    Vonseiten der Evangelischen Allianz gebe es vornehmlich in die CDU Verbindungen, klärt das Feature auf und nennt die Bundestagsabgeordneten Frank Heinrich und Johannes Selle, den früheren Fraktionschef Volker Kauder sowie Christine Lieberknecht, ehemalige Ministerpräsidentin Thüringens.

    Der Autor bemerkt am Ende, dass er auch das in evangelikalen Gemeinden erlebt hat: Die Pastoren „stehen bescheiden auf der Kanzel, ihr Ton ist mitunter fast liebevoll. Ich erlebe gut besuchte Gottesdienste, wo junge Leute mit erhobenen Händen und Tränen in den Augen zu sanfter Musik ihren Herren loben.“
    Also keine Hetzprediger und Demonstranten? Kommt also ein versöhnlicher Schluss?
    Die Kritik folgt auf dem Fuße: Diese Menschen seien häufig unpolitisch, würden auch nicht gegen Rechts auf die Straße gehen. Außerdem habe dem Autor ein Mann von geistlichem Missbrauch in seiner Gemeinde berichtet.“

    https://www.pro-medienmagazin.de/der-swr-und-die-suche-nach-rechten-evangelikalen/

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  2. Es geht bei einer Netflix Doku doch nicht um eine ausgewogene Berichterstattung, sondern um die verhängnisvolle Macht religiöser Führer und die Machtlosigkeit des Staates, die Menschen vor solchen Führern zu schützen.
    Außerdem, eine Doku funktioniert kommerziell nun mal am besten mit reißerischen Themen.

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  3. Ich habe mich schon vor Jahren mit dieser absoluten Albtraumsekte FLDS beschäftigt. Und obwohl ich Netflix extrem kritisch gegenüberstehe, kann ich diese Doku erstmal nur gut finden. An Jeffs und seinen Komplizen kann man nun beim besten Willen kein gutes Haar mehr lassen.

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