„Zeit Wissen“: Warum wir glauben müssen

H a m b u r g (PRO) – Menschen sind so veranlagt, dass sie bei allen Geschehnissen nach Erklärungen und nach einem Sinn suchen. Dieses kausale Denken sei einer von vielen Faktoren, die bewirkten, dass Menschen nicht anders könnten als zu glauben. Diese Erkenntnisse beschreibt der Artikel "Warum wir glauben müssen" in der Januar-Ausgabe von "Zeit Wissen", dem monatlichen Magazin der Wochenzeitung "Die Zeit".
Von PRO

Als ein wichtiges Beispiel für psychologische Mechanismen, die zum Glauben führen, nennt „Zeit“-Autor Ulrich Schnabel das kausale Denken: Danach suche der Mensch bei allem, was passiere, nach einem Grund oder einem tiefer liegenden Motiv. Die Annahme, etwas geschehe ohne Grund, widerstrebe dem menschlichen Denken zutiefst. In Situationen, die sich unserem Zugriff entziehen, füllen Menschen dieses „Deutungsvakuum“ mit Glaubensvorstellungen. „Automatisch und oft unbewusst suchen wir nach Erklärungen für all das, was uns widerfährt“, zitiert „Zeit Wissen“ den Evolutionsbiologen Justin Barrett aus Oxford.

Dies müsse nicht unbedingt der Glaube an Gott sein, sondern werde unterschiedlich von den Menschen gefüllt. Auch Astrologie, der Glaube an esoterische Praktiken oder die Botschaft von der Kraft positiven Denkens könnten das Vakuum füllen. Sogar die Wissenschaft biete sich als Ersatzreligion an, obwohl oder gerade weil sie weit davon entfernt sei, für alle Phänomene eine eindeutige Begründung zu liefern. Anstelle des Gottvertrauens trete in der Wissenschaft die Hoffnung auf die nächste Studie und künftige wissenschaftliche Fortschritte.

Wissenschaftler: „Wenig konkrete Antworten, aber Idee einer Lösung“

Als weiteres Beispiel nennt „Zeit“-Autor Ulrich Schnabel die Prägung der menschlichen Denkweise von frühester Kindheit an. In dieser Phase erlebten Kinder die Eltern als allwissende und allmächtige Wesen. Da verwundere es nicht, dass wir unser Leben lang empfänglich seien für die Vorstellung „omnipotenter Wesen“. Für Evolutionsbiologen sei es kein Zufall, dass wir im Christentum eine Familie mit Gottvater, seinem Sohn Jesus und dessen Mutter Maria nachgebildet finden.

Mit einem Rundumblick auf die Erkenntnisse von Ethnologen, Anthropologen, aber auch Hirnforschern und Psychologen will Schnabel herausfinden, woher das Bedürfnis nach einem religiösen Weltbild, nach einem Glauben rührt. Dabei will er sich nicht der alten Streitfrage nach der Existenz Gottes widmen, die für ihn weder beweisbar noch widerlegbar ist, sondern er geht der Frage nach, warum der Mensch „nicht anders kann, als zu glauben“. Nach Ansicht des Religionsforschers Pascal Boyer von der Universität Cambridge sind Wissenschaftler allerdings von konkreten Antworten noch weit entfernt, aber „wir haben zumindest die Idee einer möglichen Lösung“, so Boyer laut „Zeit Wissen“.

„Glaube ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt der Evolution“

Zahlreiche kognitive und emotionale Faktoren, die ursprünglich zu anderen Zwecken dienten, bedingen laut Boyer den menschlichen Glauben. Religion und Glaube seien demnach kein Ziel der Evolution, sondern ein unbeabsichtigtes „Nebenprodukt“ der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Der Anthropologe und Religionswissenschaftler veröffentlichte im Jahr 2004 das Buch „Und der Mensch schuf Gott“.

Der Psychologe Jesse Bering von der Florida Atlantic University beschreibt als Grund zu glauben „die Unfähigkeit, uns unsere eigene Nichtexistenz vorzustellen“. Dies begründe auch die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod. Auch der menschliche Hang, tote Dinge als belebt wahrzunehmen und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, sind Evolutionsbiologen Erklärungen dafür, dass Naturerscheinungen oder rätselhafte Dinge gerne auf das Handeln höherer Wesen zurückgeführt werden.

„Wissenschaft bricht nicht den Zauber der Religion“

Der bekennende Atheist Scott Atran gab zu, dass logisches Denken zwar sehr gut sei, „um die verborgenen Ursachen und Beweggründe der Welt um uns herum aufzudecken“, aber sehr schlecht, „um moralisch zu entscheiden, was wir mit diesen Erkenntnissen anfangen sollen“. Diese Rolle komme der Religion zu. Vermutlich habe daher „auch keine Gesellschaft länger als drei Generationen überlebt, wenn sie nicht ein religiöses Fundament hatte“, so Atran.

Der Autor des Artikels kommt zu dem Schluss, dass alle wissenschaftlichen Erklärungsversuche letztendlich den „Zauber der Religion“ nicht brechen könnten. Er zitiert noch einmal Justin Barrett, den er als „Vordenker der Evolutionsbiologie“ bezeichnet. Barrett selbst beschreibt sich als Christ, der an „einen allwissenden, allmächtigen, vollkommen guten Gott“ glaubt. Für Barrett bedeutet die Erkenntnis, dass die mentale Struktur eines Menschen ihn zur Religion zwinge, keinesfalls, seinen Glauben ablegen zu müssen. „Warum sollte uns Gott nicht gerade so formen, dass wir den Glauben an göttliche Wesen ganz natürlich finden?“ Er erklärt dies mit einem Beispiel: „Nehmen wir an, die Wissenschaft kann überzeugend erklären, warum ich denke, dass meine Frau mich liebt – sollte ich deshalb aufhören, zu glauben, dass sie es tut?“

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