„Terror – Ihr Urteil“: Denkwürdiges TV-Experiment

Darf man das Leben von Menschen opfern, um damit viele Andere zu retten? Mit einem klugem Fernsehexperiment hat die ARD ihre Zuschauer zur Mitarbeit in einem inszenierten Gerichtsfall aufgefordert. Ein untypisches Drama. Eine TV-Kritik von Miriam Anwand
Von PRO
Die Schauspieler beim ARD-TV-Event „Terror – Ihr Urteil", von links nach rechts:  Lars Eidinger, Martina Gedeck, Florian David Fitz, Burghard Klaußner

Ein Kampfpilot schießt ein Flugzeug ab, dass von Terroristen entführt worden ist und jeden Moment in ein volles Fußballstadion stürzen sollte. Lars Koch rettet 70.000 Menschen, indem er 164 Leben für sie opfert. Ist er ein Held oder ein Mörder? Tut er das einzig Richtige, oder handelt er ethisch falsch, indem er entscheidet, wer überleben darf und wer nicht? Ist er schuldig im Sinne der Anklage oder freizusprechen?
Darüber durften die Zuschauer von Oliver Berbens Film „Terror – Ihr Urteil“ mitentscheiden. Die frei erfundene Handlung des Films steht im Kontext mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, den Abschuss von entführten Luftfahrzeugen, die als solche zur tödlichen Waffe werden können, zu verbieten. Der Beschluss wurde im Bundestag heiß debattiert. Im Hintergrund des Gerichtssaales, in dem der Film ausschließlich spielt, ist – wohl nicht ohne Grund – die Reichstagskuppel zu sehen.
Auf dramatische Szenen zum Vorgang der Entführung, auf panische Passagiere oder einen mit sich ringenden Kampfpiloten, der mit Schweißperlen auf der Stirn schließlich doch auf den Knopf drückt, wartet man vergeblich, genauso wie auf die Vorgeschichte der Charaktere. Nichts davon – nicht einmal Filmmusik – braucht die Inszenierung, um den Zuschauer anzusprechen. Der wird dennoch angesprochen, und zwar ganz direkt vom Richter. Nach rund einer Minute Laufzeit – Publikum, Gericht, Angeklagter, Verteidiger und Staatsanwältin haben den Saal betreten – dreht sich der Richter um und blickt direkt in die Kamera: „Meine Damen und Herren. Sie sind heute dazu aufgerufen, Schöffen bei einem deutschen Gericht zu sein.“

Die Zuschauer konnten über das Urteil abstimmen

Er erklärt kurz die Aufgabe eines Schöffen und spätestens als er erklärt, dass man sowohl online, als auch per Telefon seine Stimme abgeben kann, wird dem Zuschauer bewusst, dass dies kein Scherz ist. Immer wieder wenden sich die Schauspieler in Richtung der sogenannten „vierten Wand“, also die bei einer Theateraufführung offene Seite der Bühnendekoration. Tatsächlich basiert der Film auf dem gleichnamigen Theaterstück von Ferdinand von Schirach, der nicht nur einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller ist, sondern auch Strafverteidiger. Abgesehen vom Anfang und der Unterbrechung der Sitzung zur Urteilsfindung durch die Schöffen, ist die „vierte Wand“ nur subtil Teil des Geschehens, nämlich allein durch den Blickkontakt der Schauspieler. Dabei wechseln ihre Blicke jedoch immer ab zwischen der Kamera und den anderen Schauspielern, sodass die „Schöffen“ noch stärker von der Wohnzimmercouch auf die Richterbank geholt werden.
Neben der fehlenden Filmmusik beeindruckt der Film auch sonst durch seine unpretentiöse Art: allein die Kameraführung sorgt an bestimmten Stellen für besondere Nähe zu den Charakteren. Ohne Rührseligkeit schafft es der Film, den Atem stocken zu lassen bei der Frage, ob der Angeklagte genauso entschieden hätte, wären seine Frau und sein Sohn an Bord der Maschine gewesen. Erst die hilflose Antwort Kochs, er wisse nicht, was er in diesem Fall getan hätte, lässt einen erleichtert aufatmen. Auch die gut ausgewählten Schauspieler, mit Martina Gedeck, Lars Eidinger und Florian David Fitz helfen der Produktion zu ihrer Realitätsnähe. Besonders fällt Burghart Klaußner auf. Er verkörpert den vorsitzenden Richter derart sachlich und undramatisch, dass man hin und wieder vergisst, dass auch er Teil einer Inszenierung ist. Seine Zwischenfragen wirken derart spontan und uneingeübt, dass man sich Dreharbeiten, bei denen Szenen immer und immer wieder wiederholt werden müssen, hier kaum vorstellen kann.
Dass die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen, liegt auch daran, dass der Fall im Anschluss in der Realität diskutiert wurde, nämlich in der Talkshow „hart aber fair“. Unter Frank Plasbergs Gästen waren Personen, die in die Debatte um den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes involviert waren, darunter der ehemalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU), der für „nicht schuldig“ gestimmt hätte. Der ehemalige Innenminister Gerhart Baum (FDP) plädierte hingegen leidenschaftlich auf „schuldig“. Während der Sendung wurde das Abstimmungsergebnis der Zuschauer bekanntgegeben, die mehrheitlich für „nicht schuldig“ stimmten. Auch die Urteilsverkündung wurde gezeigt. Beide Versionen des Filmendes stehen nun in der Mediathek zur Verfügung.
Die ARD sorgte mit diesem Film weniger für einen unterhaltsamen, sondern eher für einen hochspannenden Abend. 6,88 Millionen Zuschauer ließen sich von diesem untypischen Drama fesseln. Untypisch war es nicht nur durch das Experiment der Zuschauereinbindung, sondern noch vielmehr aufgrund seiner spartanischen filmischen Gestaltung, die den Argumenten, also dem gesprochenen Wort allen Raum ließ und trotzdem oder gerade deshalb nackte Emotionen zuließ. Das geht auch ohne tränenreiche Gefühlsausbrüche.
Alle Seiten kamen gleichberechtigt zu Wort, bis man sich in der Rolle des Schöffen unbehaglich fühlte angesichts eines furchtbaren Dilemmas: Selbstverständlich ist die Würde des Menschen unantastbar, und mit Recht ist das der erste Satz von Artikel 1 des Grundgesetzes. Natürlich sind alle Menschen gleich wertvoll. Kein Mensch darf Gott spielen – nicht zuletzt für Christen eine unanfechtbare Aussage.
Die Staatsanwältin hat Recht mit ihrem Beispiel der Organtransplantation: man kann nicht einfach einen Menschen töten, weil seine Organe fünf anderen Menschen das Überleben sichern. Die Entscheidung kann auch nicht von der Anzahl der zu rettenden Menschen abhängig gemacht werden – wer soll da wo die Grenze ziehen? Lässt man hier durch einen Freispruch zu, dass ein Einzelner aufgrund seiner Moralvorstellung oder Berufung auf einen „übergesetzlichen Notstand“ derartige Entscheidungen treffen kann, öffnet man solchem Verhalten an anderen Stellen die Tür. Es muss ein verlässliches Prinzip geben, dass über der individuellen Entscheidung zwischen richtig und falsch steht.

So denkt eine Theologin über den Fall

Ist der Angeklagte also zu verurteilen, wie Gerhart Baum entscheiden würde? „Das war Mord. Menschenleben zu verrechnen – 164 gegen 70.000 – das verbietet unser Grundgesetz. Ein Leben ist genau soviel wert wie tausend“, argumentiert er. Aber was ist mit den 70.000 geretteten Menschen? Hat der Angeklagte nicht einfach nur das geringere Übel gewählt? 164 Tote gegen 70.000 Überlebende? Stehen Prinzipien wirklich über der Moral? Werden nicht schon längst im Gesetz Menschenleben gegeneinander aufgewertet? Wird nicht auch das Leben eines vereidigten Soldaten im Zweifelsfall für das derjenigen eingesetzt, die er verteidigen soll? Waren die Menschen im Flugzeug nicht ohnehin dem Tod geweiht? Geben wir Terroristen mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes nicht die mächtigste aller Waffen in die Hand, indem sie Flugzeuge entführen können, während wir uns selbst die Hände binden? Ist Koch freizusprechen mit der Begründung, die Franz Josef Jung in Plasbergs Sendung gab: „Der Staat hat die Aufgabe, Leben zu schützen. Das hat dieser Pilot im Endeffekt getan.“ Wie man sich auch entscheidet – das Dilemma bleibt. Sehr gut wurde das schließlich in den alternativen Richtersprüchen dargestellt, die in ihrer Formulierung fast deckungsgleich sind.
Eine Alternative zum Urteil von Jung und Baum ist die Haltung der Theologin Petra Bahr, die ebenfalls bei „hart aber fair“ zu Gast war. Sie zeigte sich unentschieden, tendierte aber zu „schuldig“. Sie sagte, dem Angeklagten bliebe nicht die Entscheidung zwischen „richtig und falsch“, sondern nur die zwischen „falsch und falscher“. Das Recht käme hier an seine Grenzen. Koch sei schuldig und gleichzeitig sei seine Entscheidung gut gewesen. Menschen würden sich manchmal freiwillig schuldig machen, um größeres Übel zu verhindern. Insofern habe der Soldat also nach seinem Eid gehandelt: er hat die Unbescholtenheit seines Leben geopfert, indem er sich zugunsten des Lebens von 70.00 Menschen an 164 anderen schuldig gemacht hat. (pro)Plasbergs heitere Burka-Stunde (pro)

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