Meinung

„Lebenswillen“ fördern und Würde achten

Bei der Orientierungsdebatte zum assistierten Suizid im Parlament wurde deutlich, dass mehr Hilfe zum Leben angezeigt ist. Die Würde des Menschen darf dabei aber keinen Schaden nehmen. Der Auftrag richtet sich an alle.
Von Norbert Schäfer
Tote Hand

Am Mittwoch haben sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in Berlin in einer sogenannten Orientierungsdebatte einen Überblick über den assistierten Suizid verschafft. Die Debatte zur Neureglung der rechtlichen Rahmenbedingungen zum assistierten Suizid wurde kontrovers, aber sachlich geführt. Teilweise flochten die Parlamentarier Schilderungen persönlicher Bezüge und Glaubensüberzeugungen zu dem ethisch schwerwiegenden Thema in ihre Reden ein. Sämtliche Beiträge waren dem Anlass gemäß würde- und respektvoll.

Eine Rede hat mich besonders nachdenklich gestimmt. Lars Castellucci (SPD) forderte, den „Lebenswillen“ von Menschen zu unterstützen. Der Staat solle Möglichkeiten zur „Hilfe und Unterstützung zum und im Leben“schaffen und fördern. In Gedanken bin ich bei der Rede von Castellucci die Gräberreihen auf dem Friedhof meines kleinen Heimatortes abgeschritten. Ich war erschrocken darüber, wie viele meiner ehemaligen Zeitgenossen offenbar keinen Sinn mehr in ihrem Dasein erkennen konnten und beschlossen hatten, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Darunter war nach meiner Erinnerung keiner, der wegen einer unheilbaren Krankheit oder nach jahrelangem, elendigem Siechtum Erlösung aus seinem Leid im Freitod suchte.

Fragen bleiben

Nun bleiben Fragen. Warum wurden der fehlende Lebensmut und der mangelnde Lebenswille der Menschen nicht erkannt? Und falls er erkannt wurde, warum konnte nicht geholfen werden? Und auch: Warum vermochte das von den christlichen Gemeinden am Ort offenbar keine? Versprüht der christliche Glaube etwa so wenig Lebensfreude, so wenig Zuversicht und Hoffnung, dass Sterbewillige – gleich aus welchen Beweggründen – selbst die Kirche und das Christentum nicht mehr als Option für Hilfe in höchster Not in Betracht ziehen? Und sind wir andererseits willens, ungeachtet persönlicher Glaubensüberzeugungen und daraus wohl überlegter Argumente, jedem Menschen einen würdevollen Tod gemäß der ihm eigenen Weltanschauung überhaupt in Aussicht zu stellen?

Wenn die Politik fordert, dass es Hilfe zum Leben braucht, dann ist das als Auftrag für alle zu verstehen. Das heißt auch: offene Augen und Herzen für die Menschen um uns herum haben, für ihre Nöte und Sorgen, die nicht auf den ersten Blick sichtbar sind. Haben wir zum Beispiel unsere Jugend im Blick? Unter Kindern und Jugendlichen, das hat der Mediziner Christian Dohna-Schwake von der Uniklinik Essen in einer Studie festgestellt, ist die Zahl der Suizidversuche im zweiten Corona-Lockdown stark gestiegen. Was kann „Hilfe zum Leben“ in dem Zusammenhang heißen? Diese Frage muss sich die Politik ebenso stellen – aber der Einzelne sollte es gleichfalls tun.

Für die Tätigkeit in unserer Redaktionsstube muss es bedeuten, dass wir hinter jedem Thema, zu dem wir recherchieren, berichten oder kommentieren, immer auch die Menschen sehen, die damit untrennbar verbunden sind. Ganz gleich, ob wir über Sterbehilfe, sexuellen Missbrauch oder Homosexualität im Kontext von Kirche berichten, sind wir deshalb stets darauf bedacht, der Würde des Einzelnen Rechnung zu tragen. Das Prinzip ist übrigens auch in Gemeinden anwendbar. Geistliche Überzeugungen und Prinzipien sind notwendig und wünschenswert. Aber bei alledem darf nie der Menschen mit der ihm eigenen Würde und Geschichte aus dem Blick geraten.

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