„Kirchenscheiß“ beeindruckt Mörder

Die Geschichte ist wirklich so passiert: Ashley Smith wird von einem brutalen Mörder entführt. In der Geiselhaft liest sie ihm aus dem bekannten Buch „Leben mit Vision“ von dem Pastor Rick Warren vor. Der Film „Captive“, der am Donnerstag in die Kinos kam, versucht, das Beste aus der Geschichte herauszuholen, mit Bibelvers, Oprah Winfrey und allem drum und dran. Eine Filmkritik von Jörn Schumacher
Von Jörn Schumacher
Im Film „Captive“ liest eine Geisel ihrem Entführer aus dem Buch „Leben mit Vision“ von Rick Warren vor

Wohl jeder Schriftsteller träumt davon, dass sein Buch viel Gutes in der Menschheit bewirkt. Am besten, es verändert den Leser so sehr, dass er ein besserer Mensch wird. Ein christlicher Schriftsteller wird sich wohl zusätzlich wünschen, dass sich möglichst viele Leser dadurch zum christlichen Glauben bekehren. Vielleicht erträumt sich sogar manch ein Autor, sein Buch könnte eines Tages Leben retten. Vielleicht entführt ja eines Tages ein Krimineller eine Person, die liest ihm dann aus dem Buch vor, und der Bösewicht lässt augenblicklich von seinen Schandtaten ab und unterlässt es natürlich, die Geisel zu töten.
Dieser Traum scheint wahr geworden zu sein. Im Jahre 2005 brach Brian Nichols aus dem Fulton-County-Gefängnis in Atlanta aus. Er erschoss auf seinem Weg in die Freiheit vier Menschen. Schließlich wählte er sich zufällig die junge Witwe Ashley Smith aus und nahm sie als Geisel. Der Film zeigt, wie sich Nichols in Ashleys Haus verschnauft, ihr Essen isst, ihre Cola trinkt und in der gesamten Zeit die junge Frau mit einer Waffe bedroht.
Doch wie das Schicksal (oder Gott?) es wollte, hatte die junge Dame, die von der Droge Crystal Meth abhängig war, kurz zuvor bei der Drogentherapie das Buch „Leben mit Vision“ des bekannten amerikanischen Pastors Rick Warren geschenkt bekommen. In ihrer Geiselhaft erlaubt es ihr Geiselnehmer, ein paar Sätze daraus vorzulesen. Der reagiert zunächst unwirsch. „Das ist ja so‘n Kirchenscheiß!“ Pastoren seien Betrüger und Lügner, lautet sein allgemeines Urteil.
Doch am Tag darauf hört er sich noch ein paar Zeilen an, die Ashley ihm vorliest. Es macht ihn stumm. Er fragt sich, ob er für seine Morde wohl jemals Vergebung erfahren kann. Darauf versinkt er in eine tiefe innere Einkehr. Dieses lang anhaltende Verstummen nutzt Ashley, um sich aus dem Staub zu machen.

Ein Traum, wie für Oprah gemacht

Man kann diese Geschichte auf zwei Arten interpretieren. Die eine geht so: Ashley sollte dieses Buch geschenkt bekommen, sie sollte entführt werden, das Schicksal (oder Gott) hatte die beiden zusammengeführt, und es sollte so sein, dass Ashley Brian aus dem Buch vorliest. Er ist quasi kurz davor, sich (stumm) zu bekehren, erkennt seine Schuld und lässt Ashley laufen. Der Film von Regisseur Jerry Jameson führt einige Argumente für diese Version ins Rennen. Zumal sich am Ende alles zum Guten kehrt, Ashley sogar von den Drogen loskommt, neu heiratet, zwei weitere Kinder bekommt und glücklich von dem eingeblendeten Original-Foto in den Kinosaal lächelt. Sogar der mächtigste Engel des amerikanischen Fernsehhimmels, Oprah Winfrey, nimmt sich ihrer herzzerreißenden Geschichte an und bringt sie – vor laufender Kamera und dem Publikum im Studio – mit dem Autor des Buches, Rick Warren, höchstpersönlich zusammen. Der Original-Ausschnitt aus der Fernsehsendung wird dem Kinozuschauer am Ende gezeigt.
Die andere Version der Geschichte klingt weitaus nüchterner. Ashley hatte einfach Glück, und ihr Entführer war nach der langen Nacht ohne Schlaf einfach viel zu fertig, um sich noch eine Stunde länger um die Geisel zu kümmern. Für diese Geschichte gibt es auch gute Indikatoren: Nichols hat in der Nacht drei ordentliche Lines von Ashleys Meth geschnupft, worauf der, gelinde gesagt, etwas durcheinander ist. Seine Lage ist zudem ziemlich aussichtslos, das musste ihm klar sein. Die einzige Chance, seinen Sohn noch einmal zu sehen, ist wohl, aufzugeben. Das stärkste Argument ist aber wahrscheinlich, dass weder Ashley noch Nichols wirklich je etwas länger in Rick Warrens Buch gelesen haben. So zeigt es jedenfalls der Film. Zwei, drei Sätze reichen aus, um einen Entführer und skrupellosen Mörder zum Aufgeben zu bringen und eine Abhängige von den Drogen loszubekommen – das sieht dann doch zu sehr wie der Traum eines Buchautors aus, der vor der Schreibmaschine eingeschlafen ist.

Ende gut, alles gut

Der Film „Captive“ ist zwar zu Beginn mit einem Bibelvers überschrieben (Römer 5,20: „Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade noch viel mächtiger geworden,“), und Rick Warrens Buch kommt tatsächlich in einigen Sekunden zu Wort. Doch die Tiefe dieses durchaus lesenswerten und für viele Menschen lebensverändernden Buches und Gottes Wille für den Menschen kann wohl kaum wirklich so schnell durchdringen. Die Hauptdarsteller David Oyelowo („Selma“) und Kate Mara („127 Hours“) liefern in diesem Kammerspiel jedenfalls eine sehenswerte Leistung ab.
Es mag sein, dass Gott in der Geschichte von Ashley Smith seine Finger im Spiel hatte. Und vielleicht kam der echte Brian Nichols ja tatsächlich ins Grübeln, als er Rick Warrens Worte hörte: „Das Wichtigste im Leben bist nicht Du, das Wichtigste ist Gott. Gott will von Dir das Beste. Verlange nicht immer nach mehr, sondern nutze das, was Dir bereits geschenkt wurde.“ Jamesons Film trägt dann aber doch sehr dick auf, und vor allem die letzten Minuten erwecken den Anschein, als habe sich das Oprah-Universum mancher Amerikaner dankbar der Illusion ergeben, hier sei (wieder mal) ein Traum wahr geworden, und zwar der Traum eines Schriftstellers, dass sein Buch eines Tages ein Leben retten könnte. (pro)

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