Geisterkinder – Fünf Geschwister in Himmlers Sippenhaft

Vor 75 Jahren, am 20. Juli 1944, versuchten Widerstandskämpfer rund um Claus Graf Schenk von Stauffenberg, Adolf Hitler zu töten. Was passierte eigentlich mit den Familienangehörigen von Widerstandskämpfern im Dritten Reich? Das Buch „Geisterkinder“ erzählt die packende Geschichte. Eine Rezension von Stefanie Ramsperger
Von PRO
Im Konzentrationslager Stutthof retteten jüdische Ärzte das Leben von Lottes Tochter Anna

Eigentlich ist es nur ein knappes Jahr – und doch so lang, so quälend lang für die Familienmitglieder Hofacker. Nach dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 wird der am Widerstand aktiv beteiligte Vater verhaftet und seine Familie von den Nazis verfolgt. Im Buch „Geisterkinder – Fünf Geschwister in Himmlers Sippenhaft“ beschreibt die Enkelin des Widerständlers Cäsar von Hofacker, was dessen Familienangehörige nach dem Attentatsversuch erlebten. Die Familiengeschichte rekonstruiert sie auf der Basis historischer Forschung, vor allem aber durch Tagebucheinträge ihrer Mutter und Tante, Briefwechsel innerhalb der Familie und natürlich Gespräche mit ihren Vorfahren.

Nach dem gescheiterten Attentat wird Cäsar von Hofacker, der ein Vetter Stauffenbergs ist, verhaftet und nach mehrmonatigen Verhören und Folter schließlich von den Nazis umgebracht. Seine drei jüngsten Kinder werden von der Mutter getrennt und in ein Kinderheim verfrachtet, wo sie elf Monate, mehr oder weniger auf sich selbst gestellt, verbringen. Sie sind die titelgebenden „Geisterkinder“, wie sie wegen ihrer Schemen hinter den Fensterscheiben des Kinderheims genannt werden. Cäsars Ehefrau Lotte und die beiden ältesten Kinder, Eberhard und Anna-Luise, werden in Sippenhaft genommen.

„Uns geht es nicht besser als Millionen anderer deutscher Familien“

Besonders deren Ängste bei der Odyssee durch verschiedene Gefängnisse und Konzentrationslager im Deutschen Reich zeichnet die Autorin, eine Tochter Annas, nach. Der Kontrast zwischen fröhlichen Kindheitserlebnissen und tiefem Schrecken und Verunsicherung während der Transporte und Gefangenschaft könnte größer nicht sein. Und doch ist das Bemühen der Betroffenen, das Beste aus ihrer Situation zu machen und nicht mit ihrem Schicksal zu hadern, allgegenwärtig. Als Mutter Lotte nach dem Attentat die Konsequenzen für den Vater bewusst werden, richtet sie sich an die beiden ältesten Kinder. Ein Auszug ihrer Ansprache, wie ihn Anna in ihrem Tagebuch erinnert: „Er wird für diese Idee als ein Held sterben genauso wie die anderen Offiziere auch, die ihm bereits vorangegangen sind. Uns geht es nicht anders als Millionen anderer deutscher Familien. Wenn es so Gottes Wille ist, werden wir das Schicksal meistern.“

Der Glaube an Jesus ist nicht nur Richtschnur im Leben der einzelnen Familienmitglieder, sondern auch fester Halt, als die Familie auseinandergerissen wird. Selbst dann, als die Familie vom Tod des Vaters erfährt. Der Sohn Eberhard öffnet den Brief mit der Todesnachricht und informiert später seine Mutter – ebenfalls per Brief – darüber: „Ich kann es auch bis heute noch nicht verstehen, dass uns der liebe Gott so Schreckliches antun musste, aber er wird es ja wissen.“

Trotz allem bemerken Lotte und ihre Kinder während der Sippenhaft immer wieder, dass sie im Vergleich zu anderen privilegiert werden, beispielsweise weil sie im KZ nicht arbeiten müssen. Umso eindrücklicher schildert die Autorin die psychischen Qualen: Monatelang bleibt die Familie über das Schicksal des Vaters im Ungewissen. Sie wissen auch nicht, wie es den drei jüngeren Kindern geht. Und was haben die Nazis überhaupt mit ihnen vor? Eins ist der Familie ständig schmerzlich bewusst: Sippenhaft bedeutet Willkür, Machtlosigkeit und Ungewissheit.

„Wir werden es nicht erleben, man bringt uns vorher um“

Eine der intensivsten Szenen, die im Buch geschildert wird, ereignet sich kurz vor Kriegsende im KZ Stutthof, als Anna schwer erkrankt ist. Die Rote Armee rückt vor, das Lager steht kurz vor der Räumung, Lotte begleitet die kranke Tochter zur Krankenstation. Ihnen ist klar, dass Anna kaum Überlebenschancen hätte, wenn die Ärzte sie nicht transportfähig schreiben. Auch die gefangenen, jüdischen Ärzte wissen dies und retten dem Mädchen wohl das Leben, indem sie sie transportfähig schreiben und sie nicht allein zurückbleiben muss. Als die Mutter sich bedankt und die Ärzte fragt, was denn aus ihnen selbst werde, wenn die Russen kämen, antworten diese: „Wir werden es nicht erleben, man bringt uns vorher um.“ Tatsächlich überlebte von den 50.000 Juden, die nach Stutthof deportiert wurden, kaum einer. In Annas Erinnerung sind diese ruhigen, besonnenen und herzensguten Männer lebendig geblieben.

Eine Stärke des Buches ist es, dass die Autorin sich bei fast allen vorkommenden Figuren die Mühe gemacht hat, zu recherchieren, was später aus ihnen geworden ist. So erfährt der Leser nicht nur, was aus Familienmitgliedern von Widerstandskämpfern rund um Cäsar von Hofacker wurde, sondern auch, was mit den SS-Leuten passierte, die den Sippenhäftlingen besonders eindrücklich in Erinnerung geblieben waren.

„Geisterkinder“ ist eins der besten Bücher, das in den vergangenen Jahren im Segment der christlichen Literatur erschienen ist. Nicht nur für historisch Interessierte ist das Werk, bei aller Tragik, eine bereichernde Lektüre, sondern auch für all diejenigen, die einen unaufdringlichen Einblick in das tiefe und (beinahe) unerschütterliche Gottvertrauen anderer erhalten möchten. Für alle Leser mag gelten, was Cäsar von Hofacker seinen Kindern zu deren Konfirmation schreibt, nämlich sich „immer bewusst bleib(en), dass der liebe Gott einen ja nicht zwecklos in dieses Leben hineingestellt hat“.

Valerie Riedesel Freifrau zu Eisenbach: „Geisterkinder“, SCM, 416 Seiten, 18,95 Euro, ISBN 9783775157919 Foto: SCM
Valerie Riedesel Freifrau zu Eisenbach: „Geisterkinder“, SCM, 416 Seiten, 18,95 Euro, ISBN 9783775157919

Von: Stefanie Ramsperger

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