Der Unperfekte

Nach dem ebenso spektakulären wie notwendigen und lange erwarteten Rücktritt Christian Wulffs glaubten Bürger, Politiker und Medien, die Bild-Zeitung habe mit ihrem Coup gegen Wulff die moralische Messlatte für den kommenden Präsident schlicht zu hoch gelegt. Der Neue sei zum Scheitern verurteilt. Ein Jahr danach ist klar: Joachim Gauck hat es allen gezeigt. 
Von PRO

Was waren sie nicht alle besorgt, dass niemand dem Amt des Bundespräsidenten gerecht werden könnte – Ein dermaßen penibel und nach Fehlern suchender journalistischer Überwachungsstaat würde kein Staatsoberhaupt, und sei dessen Herz noch so rein, davon kommen lassen. Die Journaille würde ihn auf Schritt und Tritt verfolgen, jede kleinste Verfehlung abspeichern, anrechnen und zum richtigen Zeitpunkt gegen ihn verwenden. Selbst die Abschaffung des Bundespräsidentenamtes stand zeitweise zur Debatte. Vor einem Jahr hat die Bundesversammlung den Wulff-Nachfolger Joachim Gauck ins Amt gewählt – und er hält sich gut. Wider Erwarten vieler zeigt sich: Die Medien mögen den ehemaligen Pfarrer. Und das, obwohl er sich durchaus streitbar gibt.

Zum Beispiel hatte seine jüngste Aussage zum „Tugendfuror” zu einem Aufschrei von Frauenrechtlerinnen geführt. Im Spiegel hatte Gauck die Sexismus-Affäre um Rainer Brüderle als überzogen bewertet. Außerdem brachte ihm seine Erklärung, er gehe in Sachen Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland nicht mit seinem Vorgänger konform, Widerspruch der Islamverbände ein. Besonders unter seinen Berliner Politiker-Kollegen kam Ende des Jahres zudem der Vorwurf auf, Gauck sei zu unsichtbar. Spiegel Online schloss sich an: „Der frühere Pastor ist ein brillanter Menschenfischer, so viel ist klar. Und doch: Wer die Zeit seit Februar dieses Jahres passieren lässt, dem werden nicht viele bedeutsame Botschaften in Erinnerung geblieben sein, die über den Tag hinaus nachwirken.”

Wirft man aber einen Blick auf die deutschen Leitmedien insgesamt – Spiegel, FAZ, Welt, Süddeutsche Zeitung und Bild-Zeitung – wird schnell klar: Der Präsident ist überaus beliebt, und zwar durch die Bank von liberal nach konservativ. Nach 100 Tagen im Amt verkündete etwa der eigentlich Gauck-kritische Journalist und Spiegel-Kolumnist Jakob Augstein bereits, der Präsident sei „ein Glücksfall für die Demokratie”, und weiter: „Gauck versorgt den politischen Betrieb mit einer knapper werdenden Ressource: Vertrauen.” Bis auf wenige Ausnahmen lobte die Presse jüngst Gaucks Grundsatzrede zu Europa. Die Bild-Zeitung schrieb dazu Ende Februar: „Auch wenn er an die ganz großen Themen geht, so wie gestern: Gauck bleibt Gauck. Bürger Gauck.” Spiegel Online urteilte: „So kämpft man für die Einheit des Kontinents.” Die Zeitung Welt zeigte sich zwar verhalten kritisch, wünschte sich am Ende aber schlicht ein vehementeres Auftreten für deutschen Nationalstolz vom Präsidenten. „Ja, er kann es”, heißt es hingegen an anderer Stelle in einer Kommentierung des Welt-Journalisten Thomas Schmid zu der Frage, wie Gauck sich in den ersten Monaten seiner Amtszeit geschlagen habe.

Warum aber hat es ausgerechnet dieser Mann geschafft, König der Journalistenherzen zu werden? Vielleicht liegt die Antwort in der Erkenntnis, dass niemand perfekt sein muss, auch ein Präsident nicht. Aber Authentizität wird vom ersten Deutschen erwartet. Authentisch ist einer, dessen Beruf zur Berufung wird. Obwohl Gauck vor der Bekanntgabe seiner Kür zum Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten nicht einmal Zeit hatte, sich zu waschen, wie er damals erklärte, wirkte und wirkt er alles andere als ins Amt gedrängt. Gauck ist einer, der für etwas steht, sei es als Bürgerrechtler, als Pfarrer oder nun als Politiker. Er ist – trotz Fehlern – der authentische Vorzeige-Deutsche, der Christian Wulff nicht sein konnte. So hat Gauck die nach wie vor konservative Bild-Zeitung ebenso von sich überzeugt wie den Links-Journalisten Jakob Augstein. (pro)

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