Was Google kann, kann der Staat schon lange

Ob die Kamera-Fahrzeuge von Google, die seit Jahren fleißig die Straßen dieser Erde fotografieren, irgendwo auch das Sommerloch vor die Linse bekommen haben, ist nicht bekannt. Auf jeden Fall hält "Google Street View" seit Tagen die deutsche Öffentlichkeit ordentlich auf Trab. Ein praktisches Tool im Internet ist es für die einen, das Ende der Privatsphäre für die anderen. Für mich ist die aktuelle Diskussion vor allem eines: ein Rätsel.
Von PRO

Aus der Sicht eines aktiven Internet-Users ist das, was derzeit in den Medien passiert, etwas seltsam. Seit Jahren schon kämpfen engagierte "Netizens", wie aktive Netz-Nutzer gerne genannt werden, gegen die Verletzung der Privatsphäre im Internet. Unbesorgt stellen Millionen von User private Daten über sich ins Netz, bei StudiVZ, Facebook und Co. werden Fotos gepostet, bis vor wenigen Jahren auch gerne mal Postanschrift und Telefonnummer. In Blogs werden intimste Interessen verraten, per Twitter der aktuelle Standort. Aber auch wer einfach nur so durch’s Internet surft, hinterlässt eine Datenspur. So langsam spricht sich das zum Glück herum.

Vor zwei Jahren haben unsere Politiker trotz Aufjaulen aller verfügbarer Datenschützer im Land ein Gesetz verabschiedet, das die Angst vor Terror und Kriminalität über den Schutz der Privatsphäre stellt. Der Staat wollte mitloggen, wer wann wen wo angerufen hat, wer wann ins Internet gegangen und wer wann wem eine E-Mail geschrieben hat. Sechs Monate lang sollten diese Daten irgendwo gespeichert werden, sogar ohne dass irgendein Verdacht oder eine Gefahr zu erkennen ist.

Der biometrische und mit einem Funkchip versehene elektronische Pass hilft dem Staat, seine Bürger noch besser elektronisch zu erfassen. Wer heutzutage durch eine Großstadt geht, wird fast permanent von einem Netz an Überwachungskameras beobachtet, das praktisch niemand mehr überblicken kann. Moderne Geräte nehmen uns an Flughäfen sogar den letzten Schutz unserer Kleidung, nackt stehen wir vor anonymen Bewachern, "Privatsphäre" ist da oft das letzte, was noch zählt. Ungeachtet massiver Kritik von Datenschützern nimmt Deutschland am SWIFT-Abkommen zur Weitergabe von Bankdaten zwischen den USA und der Europäischen Union teil. Die staatlichen Behörden wissen über Jahre hinweg, wer wem wann wie viel überwiesen hat. Seit Jahren ist bekannt, dass die Amerikaner unter dem Namen "Echelon" unseren Kommunikationsverkehr abhören und nach bestimmten, "gefährlichen" Wörtern scannen. Satelliten beobachten die Welt permanent von oben herab, mit einer Auflösung, gegen die "Google Earth" geradezu lächerlich aussieht. Demnächst speichert das ELENA-Verfahren (elektronisches Entgeltnachweis-Verfahren) Einkommensnachweise elektronisch. Zusammengefasst: Privatsphäre ist längst ein dehnbarer Begriff, und die meisten Bürger haben gar keine Ahnung (mehr), wer sie wie wo ausspioniert.

Und da poltert eine Meldung durch alle Medien, die so tut, als gebe es vor allem einen Bösewicht, der das Ende der Privatsphäre einläutet. Google, in Deutschland dank kritischer Berichterstattung in "Spiegel", "Focus" und "Stern" ohnehin in der deutschen Bevölkerung mit größtem Argwohn bedacht, erlaubt sich tatsächlich, unsere Häuser von außen zu fotografieren. Sicher ist es richtig, die Riesen-Datenkrake Google aus den USA skeptisch zu betrachten und darauf aufmerksam zu machen, wenn sie zu weit geht mit ihrer digitalen Neugier unbescholtenen (Internet-)Bürgern gegenüber. So war die Empörung etwa zu Recht groß, als herauskam, dass Google heimlich WLAN-Netze im Land gesucht und die Informationen darüber gespeichert hat, und dies erst zugegeben hat, als es nicht mehr anders ging.

Auf einmal ist Privatsphäre wichtig

Plötzlich profilieren sich unsere Politiker damit, Google an den Pranger zu stellen, weil unsere Vorgärten ins Internet kommen sollen. Gerade noch konnten sie gar nicht genug Daten über die Bürger raffen, jetzt regen sie sich über Fotos von etwas auf, was sowieso öffentlich sichtbar ist.

Ilse Aigner (CSU), Bundesministerin für Landwirtschaft, Ernährung und Verbraucherschutz, mokierte sich über die Kamera-Autos von Google: "Für äußerst problematisch halten wir in diesem Zusammenhang auch die Aufnahmehöhe von 2,90 Meter, da hierdurch teilweise Bereiche betroffen sind, die von Passanten nicht eingesehen werden können. Dies betrifft nicht nur den Blick über die Hecke, sondern auch z.B. den Blick in Erdgeschosswohnungen/Hochparterre." Gegen die Vorratsdatenspeicherung hatte Frau Aigner übrigens gar nichts.

Bundesinnenminister Thomas de Maiziére freute sich über die Bank-Datenspeicherung von SWIFT, als es aber um "Google Street View" ging, mahnte er, man müsse "sehr sorgfältig darauf achten, wann […] aus etwas Normalem, der Blick auf eine Häuserfassade mit Klingelschildern und Briefkästen, ein weltweit möglicher Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen werden kann". Dass der Staat den Bankverkehr speichert, ist ok, dass der Nachbar aber den Gartenzwerg auch über’s Internet sehen kann, ist nicht ok. Thomas Oppermann, Innenpolitiker der SPD, und Monika Grütters (CDU), die im Bundestag für Überwachungsmaßnahmen wie die Vorratsdatenspeicherung gestimmt haben, finden die Überwachung des Bürgers gut – so lange sie der Staat durchführt. Sollen jedoch Fotos ihrer Heimatorte für jedermann in einem Atlas-Programm sichtbar werden, schlagen sie Alarm. Die Liste der Politiker, die nun im Falle von "Google Street View" öffentlich erklären, ihr Haus von Google verpixeln zu lassen, ist lang. Wo waren all diese Volksvertreter, als es darum ging, die Privatsphäre ihrer Mitbürger dort zu schützen, wo wirklich wichtige Daten gespeichert werden, von Institutionen, die Otto Normal-Verbraucher nicht einmal wirklich kennt?

Jeder Zweite in Deutschland besitzt eine Payback-Karte. Es ist ihnen offenbar egal, dass Kundennummer, Datum und Uhrzeit des Einkaufs, die Filiale und die Höhe des gezahlten Betrages an eine ihnen unbekannte Firma in München übermittelt und dort gespeichert werden. Von Google haben indes bereits 10.000 Bundesbürger gefordert, dass die Fassade ihres Hauses in "Google Street View" gelöscht wird.

Der deutsche Michel – verpixelt

Bei "Google Street View", das es seit mehreren Jahren bereits in anderen Ländern gibt, kann jeder Internet-Nutzer virtuell durch die Straßen spazieren und sich die Häuserfassaden ansehen. Es liegt auf der Hand, wie praktisch das sein kann, zum Beispiel, wenn jemand eine Reise plant oder einfach nur sehen will, wie es anderswo auf der Welt aussieht, oder wo denn gerade die Tochter in Australien so lebt. Google gewinnt die Fotos dadurch, dass ein PKW mit einer auf dem Dach montierten Kamera durch die Straßen fährt und in regelmäßigen Abständen ein Foto schießt. Die Kameras befinden sich dabei in einer Höhe von 2,90 Meter. Ein gewöhnlicher Touristenbus ist viel höher, wundert sich das Weblog "Wortfeld". Die Insassen dieser Busse sitzen in über 3,70 Metern Höhe und haben einen noch besseren Blick in die Vorgärten der Nation. Google verpixelt alle Personen auf seinen Fotos. Das geschieht automatisch –  zugegebenermaßen mitunter auch noch fehlerhaft. Doch wer persönlich durch eine Straße geht, sieht noch viel mehr, unverpixelt, live und viel schärfer als auf Google-Fotos.

"Google Street View" gibt es seit Jahren, doch seit der Softwareriese angekündigt hat, dass im November endlich auch Deutschland von der ganzen Welt aus "besucht" werden kann, geht ein Aufschrei durch das Land, wie es ihn sonst noch nirgendwo gab. Die "Tagesschau" macht "Google Street View" zum Top-Thema, Politiker fordern ernsthaft einen Google-Gipfel bei Kanzlerin Merkel.

 Der Blogger Nico Lumma regt sich unter der Überschrift "Der deutsche verpixelte Michel" darüber auf, dass sich die Deutschen im Sommer 2010 nicht etwa mit der Rente beschäftigen, mit dem Atomausstieg, oder mit der Frage, "wie Deutschland im Wachstumsbereich Internet international wieder Anschluss finden kann", sondern mit der Frage, ob Kriminelle mit "Google Street View" nun vielleicht ein revolutionäres Werkzeug in der Hand haben. Als könnten sie live und vor Ort nicht viel besser und viel mehr ausspähen. Aufgrund der Heftigkeit des Protestes der Deutschen hat die amerikanische Firma die Prozedur der Widerspruchserklärung noch vereinfacht. Inzwischen kann man auch online Google mitteilen, dass das eigene Haus bitte schön in "Street View" unscharf gemacht wird. "Spiegel Online" warf ein paar interessante Fragen auf: "Darf ich dann das tolle neue Auto meines Nachbarn auch nicht mehr fotografieren, auch nicht von der Seite – oder von oben? Was ist mit seinem Hund? Den Goldfischen in seinem Gartenteich? Und darf ich denn das schöne Haus nebenan wenigstens mit Worten beschreiben? Und was ist, wenn ich eine Beschreibung meiner Straße im Internet veröffentliche?"

Die Menschen sollten sich vielleicht eher darüber Sorgen machen, ob der "gläserne Bürger" nicht längst an ganz anderer Stelle wahr wird, nämlich in Bundestag und Bundesrat. Es gibt in jedem Fall Sinnvolleres, als sich darüber aufzuregen, dass etwas öffentlich gemacht wird, was längst öffentlich ist. (pro)

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