Revolution in Kirchenbänken

Für die Serie "Christen in Ostdeutschland" ist pro-Autorin Anna Wirth durch die neuen Bundesländer der Republik gereist. Vielerorts fand sie sich im christlichen Niemandsland wieder - doch sie lernte auch Projekte kennen, die Hoffnung machen. Ein Resümee.
Von PRO

Viel hat sich im Osten Deutschlands in den vergangenen 20 Jahren nicht getan, mag so mancher sagen. Zumindest nicht, was die christliche Landschaft angeht. 20 Jahre sind vergangen, seitdem die Mauer fiel. 20 Jahre, seit die systematische Unterdrückung von Christen durch das SED-Regime in der DDR ein Ende nahm. Immer noch muss man christliche Gemeinden, besonders im freikirchlichen Bereich, mit der Lupe suchen. Allein die Kirchenmitgliedszahlen in den neuen Bundesländern sprechen Bände. Während in Westdeutschland im Durchschnitt um die 70 Prozent der Bevölkerung zu einer der beiden großen Glaubensgemeinschaften gehören, sind es in Ostdeutschland zwischen 19 und 33 Prozent. Die Kirchen verlieren überall in Deutschland Mitglieder, in der Landeskirche Anhalts und Mitteldeutschlands aber mit über drei Prozent im vergangenen Jahr bei weitem die meisten.

Die Kirche Ostdeutschlands leidet nicht nur unter ihrem marxistischen, antichristlichen Erbe, sondern auch unter dem demografischen Wandel. Junge Menschen gehen zum Studieren in den Westen, Frauen bekommen kaum noch Kinder – auch das führt dazu, dass die Kirchen immer leerer werden und im Laufe der Zeit nicht nur das Engagement, sondern auch das Wissen um den christlichen Glauben verloren geht. So sind die Kirchen in Ostdeutschland mit Problemen konfrontiert, die Christen aus dem Westen gar nicht kennen: Wie kann ich Menschen erreichen, die nicht einmal wissen, wer Jesus überhaupt war? Wie sollen solche Zugang zur Kirche finden? Wie kann ich das Evangelium vermitteln, wenn ich bei Null anfangen muss?

Steuert die Kirche in Ostdeutschland also auf ihr Ende zu? Nein, das tut sie nicht. Sie ist lebendiger denn je.

Alles andere als verstaubt

Egal ob in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Berlin, Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern – überall sind Christen in den vergangenen 20 Jahren aufgestanden, haben sich den DDR-Staub von den Hosen geklopft und begonnen, Kirche neu zu denken. Gerade der Mangel an einem christlichen Grundwissen hat sie dazu motiviert, Projekte ins Leben zu rufen, die den Glauben so vermitteln, dass ihn jeder verstehen kann (was uns im Westen wohl zuweilen auch nicht schaden würde). In Greifswald etwa suchen junge Christen um den Theologen Michael Herbst nach Wegen, Gottesdienste so zu feiern, dass sie zunächst nicht an Kirche erinnern, denn klassischen Gottesdiensten stehen viele Ostdeutsche skeptisch gegenüber. Dort werden Kinofilme und Popmusik in die Veranstaltungen integriert, die Feier selbst findet in einem alten Theater statt.

Und noch etwas haben viele Christen in der ehemaligen DDR gelernt: An den Medien kommt niemand mehr vorbei. Nicht der evangelisierende Christ und auch nicht der Ottonormalbürger. Deshalb nutzen gerade missionarische Gemeinden TV, Funk und Zeitung, um auf sich aufmerksam zu machen und Schwellenängste abzubauen. In Mecklenburg-Vorpommern betreiben junge Christen einen eigenen TV-Sender. In Thüringen geben sie Hörzeitschriften für Blinde heraus.

Kirchen in Ostdeutschland sind nach der Wende zu offenen Kirchen geworden. Auch davon kann sich der Westen in vielerlei Hinsicht etwas abschauen. In Berlin etwa organisiert eine Gemeinde Gottesdienste für Nichtchristen. In Sachsen arbeitet der CVJM gezielt an Schulen und unter sozial Schwachen, ebenso in Sachsen-Anhalt. Teile der Kirche sind dort tatsächlich in der Gesellschaft angekommen und zeigen, dass das Evangelium auch heute noch Bedeutung hat – vor allem unter den Ärmsten. In vielen Städten ist so möglich geworden, was viele in der DDR einst für unmöglich hielten: Länderregierungen und Stadtparlamente arbeiten mit Christen zusammen, weil sie wissen, dass es ihrer Region gut tut. Nicht selten engagieren und unterstützen sogar linke Regierungen die Christen, etwa beim Berliner Projekt "Bluboks".

Das alles ändert zunächst nichts an den blanken Zahlen. Ja, es gibt weniger Christen im Osten als im Westen. Ja, die Zahlen sinken weiter. Stirbt die Kirche deshalb? Nein, sie erfindet sich neu. Und zwar, weil sie dazu gezwungen ist. Es ist ein Umwälzungsprozess, den das Christentum dort derzeit erfährt. Eine kleine, stille Revolution. Und eine solche kann nicht zuletzt helfen, sich selbst wiederzuentdecken. Und sie kann einen. Das wissen wir spätestens seit dem 9. November 1989. (pro)    

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