„Kritische Journalisten in der Türkei stehen unter Generalverdacht“

Nachdem der türkische Staatschef Erdogan das Verfassungsreferendum für sich entschieden hat, sind die Auswirkungen auf die Pressefreiheit noch unklar. pro hat mit Anne Renzenbrink, Pressereferentin bei „Reporter ohne Grenzen“, über die prekäre Situation der unabhängigen Medien vor Ort gesprochen.
Von PRO
Demonstranten ziehen mit türkischer Flagge durch Istanbul (Archivbild)

pro: Wie wird sich das Referendum in der Türkei auf die Pressefreiheit und die Medienlandschaft in dem Land auswirken?

Anne Renzenbrink: Generell glauben wir, dass der Druck auf die unabhängigen Medien in der Türkei noch weiter zunehmen wird. Es gibt noch ganz wenige „Inseln der Pressefreiheit“. Aber wir sehen schon, dass Erdogan versuchen wird, noch stärkeren Druck auszuüben, um diese letzten kritischen Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Sie sprechen von „Inseln der Pressefreiheit“ – wo sind sie zu finden?

Es gibt noch ein paar, sehr wenige unabhängige Medien und unabhängige Journalisten. Die Zeitungen Cumhuriyet und Birgün sind Beispiele, aber auch das Onlineportal Diken, die noch unabhängig berichten können. Sie arbeiten jedoch momentan unter ständiger Angst und unter ständigem Druck. Erst Donnerstagmorgen wurde bei einer Razzia in Istanbul der Chefredakteur des oppositionellen Onlinemediums Sendika.org festgenommen.

Wenn die wenigen unabhängigen Berichterstatter unter so starker Repression arbeiten, besteht die Gefahr, dass es auf lange Sicht hin keine unabhängige Presse mehr geben wird?

Wie schnell Erdogan nach dem Referendum vorgehen wird, das wissen wir noch nicht. Das hängt alles auch ein bisschen mit dem Ausnahmezustand zusammen, der jetzt nochmal verlängert wurde. Seitdem der Ausnahmezustand nach dem Putschversuch im vergangenen Juli ausgerufen wurde, wurden ungefähr 150 Medien per Federstrich geschlossen. Es ist wichtig, dass wir an die noch bestehenden unabhängigen Medien und die mutigen Kollegen, die kritisch schreiben, erinnern und immer ihre Namen nennen.

Die das aber unter Bedrohung tun.

Absolut. Die Türkei war für uns schon immer ein Land, mit dem wir uns viel beschäftigt haben. Seit dem Putschversuch im vergangenen Jahr hat das extrem zugenommen. Die wenigen noch verbliebenen Medien arbeiten unter ständiger Angst.

Ihre Organisation „Reporter ohne Grenzen“ hat im Vorfeld des Referendums Zweifel an dessen Gültigkeit geäußert. Warum?

Wir hatten gesagt, dass es ein Verfassungsreferendum ohne Medienvielfalt ist. Das Referendum hat im Ausnahmezustand stattgefunden. Der beschäftigt uns seit vergangenem Juli. Um das in Zahlen auszudrücken: Allein in den ersten sechs Monaten seit Verkündung des Ausnahmezustands wurden 150 Medien geschlossen, knapp 800 Presseausweise annulliert, mehr als 100 Journalisten ohne Prozess inhaftiert. Wie soll das Referendum öffentlich diskutiert werden, wenn so viele kritische Medien geschlossen wurden und kritische Stimmen inhaftiert wurden? Es gibt kaum Freiräume für demokratische Auseinandersetzungen, die aber essentiell sind aufgrund der Bedeutung des Referendums.

Was wirft die türkische Justiz den inhaftierten Journalisten vor?

Bei vielen der Journalisten, mit denen wir zu tun haben oder für die wir uns einsetzen, lautet der Vorwurf Terror-Propaganda. Das ist ein völlig absurder Vorwurf. Die Journalisten haben einfach ihren Job gemacht. Sie haben allgemein kritisch berichtet, kritisch über Erdogan, über den Kurdenkonflikt berichtet. Als Konsequenz sehen sie sich dem Vorwurf der angeblichen Terror-Propaganda ausgesetzt.

Ein Beispiel ist der prominente Fall Deniz Yüzel, dem auch Terror-Propaganda vorgeworfen wird. Wir haben gesehen, dass Erdogan ihn schon im Vorfeld als PKK-Vertreter, als deutschen Agenten bezeichnet hat. Das ist eine Vorverurteilung von höchster Stelle gewesen und hat jeden noch so kleinen Rest Hoffnung auf eine rechtsstaatliche Behandlung von Deniz Yücel zunichte gemacht. Das Beispiel zeigt, dass sie in Haft sitzen, weil sie kritisch berichtet haben. Kritische Journalisten in der Türkei stehen unter Generalverdacht. Es ist wichtig, dass wir an alle Journalisten denken, auch die Bundesregierung, und ihre Namen in den Mund nehmen. Wir fanden es gut, dass die Bundesregierung in dem Fall Deniz Yücel so deutlich war und seinen Namen öffentlich genannt hat. Es geht uns auch darum, die Namen aller weiteren inhaftierten Journalisten in den Mund zu nehmen, die nicht so eine internationale Öffentlichkeit oder eine große Redaktion im Rücken haben.

„Obwohl so viele kritische und oppositionelle Medien geschlossen wurden, konnte man sehen, dass sich die Bevölkerung ihren Reim auf die Dinge gemacht hat. Das zeigt auch etwas Positives.“

Das Referendum ist zwar zu Gunsten Erdogans ausgegangen, aber weniger deutlich als manche Beobachter erwarteten. Die Ja- und Nein-Stimmen in der Türkei verteilen sich regional sehr unterschiedlich. Vor allem an den Küstenregionen im Westen und Südwesten sowie in der Hauptstadtprovinz stimmten die Menschen mehrheitlich gegen die Machtzentralisierung. Ist das auch auf die oppositionellen Medien zurückzuführen?

Ja, durchaus. Die Ergebnisse in den großen Städten und in den Küstenregionen, da, wo oppositionelle Medien sitzen, zeigen, dass mehrheitlich gegen das Referendum gestimmt wurde. Es gab keine klare Mehrheit. Obwohl so viele kritische und oppositionelle Medien geschlossen wurden, konnte man sehen, dass sich die Bevölkerung ihren eigenen Reim auf die Dinge gemacht hat. Das zeigt auch etwas Positives. Das knappe Ergebnis und wo für Ja und Nein gestimmt wurde, das hat auch etwas mit den oppositionellen Medien zu tun. Aus diesem Grund vermuten wir, dass Erdogan versuchen wird, noch stärker Druck auszuüben.

Was kann der Leser für die Journalisten tun?

Es ist wichtig, dass möglichst viele Leute Bescheid wissen über die Situation, dass die Namen genannt werden – nicht nur von Deniz Yücel, sondern von vielen anderen Journalisten auch. Wir müssen darüber sprechen und berichten. Es darf sich nicht eine Art „Gewöhnungseffekt“ in Bezug auf die Türkei einstellen, weil in den vergangenen Wochen und Monaten so viel passiert ist. Ein weiterer Punkt, der sich nicht auf den Leser bezieht: Wenn deutsche Redaktionen einen türkischen Kollegen als Gastredakteur aufnehmen würden, sendet das ein Zeichen der Solidarität.

Welche Rolle spielen Online-Medien, Blogs und soziale Netzwerke für die Meinungsbildung in der Türkei?

Wir haben unter den angesprochenen „Inseln der Pressefreiheit“ einige Webseiten, die auch noch kritisch berichten können wie Diken und Bianet. Zweite ist unsere Partnerorganisation in der Türkei. Sie haben es aber schwer, sich finanziell über Wasser zu halten. Das ist auch ein großes Problem für die Medien. Es sind noch einige kritische Portale online, die noch nicht geschlossen wurden und gelesen werden.

Der libanesische Publizist Hazem Saghieh sagte kürzlich in einem Interview mit Blick auf den Journalismus in der arabischen Welt, der Journalismus dort würde eher dazu dienen, den politischen Status quo zu erhalten, für politischen Wandel tauge er nicht. Wie schätzen Sie das für die Türkei ein?

In der Türkei sind politische Einflussnahme, Selbstzensur und die Entlassung kritischer Journalisten alltäglich geworden. So haben etwa die Recherchen des weltweiten ROG-Projekts Media Ownership Monitor (MOM) gezeigt, dass sieben der zehn Besitzer der meistgesehenen landesweiten Fernsehsender direkte Verbindungen zu Präsident Recep Tayyip Erdogan und seiner Regierung haben. Doch auf der anderen Seite zeigt etwa die Berichterstattung der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Islamisten in Syrien oder über die Panama Papers, dass Journalismus in der Türkei nicht einfach nur dazu dient, den politischen Status quo zu erhalten.

Wir haben im Wahlkampf gesehen, dass ein Klima der Einschüchterung herrschte gegen Unterstützer eines „Nein“ zu den Verfassungsänderungen, das auch Journalisten und Medien zu spüren bekamen. Ein Beispiel war das Interview mit dem Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Die Zeitung Hürriyet hatte sich geweigert, ein Interview mit ihm abzudrucken, in dem er ankündigte, dass er gegen die Verfassungsreform stimmen möchte. Das zeigt das Klima der Einschüchterung.

Darüber hinaus hat ein Vertreter der pro-kurdischen Partei HDP bei der Rundfunkaufsicht RTÜK darüber Beschwerde eingelegt, wie ein staatlicher Fernsehsender nur einseitig berichtet habe. Zwischen dem 1. und dem 22. März habe der Sender 1.390 Minuten über Präsident Erdogan und 2723 Minuten über die Regierungspartei AKP berichtet, aber nur 216 Minuten über die größte Oppositionspartei CHP und 48 Minuten über die nationalistische MHP.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Referendum ist zwar zu Gunsten Erdogans ausgegangen, aber weniger deutlich als manche Beobachter erwarteten. Die Ja- und Nein-Stimmen in der Türkei verteilen sich regional sehr unterschiedlich. Vor allem an den Küstenregionen im Westen und Südwesten sowie in der Hauptstadtprovinz stimmten die Menschen mehrheitlich gegen die Machtzentralisierung. Ist das auch auf die oppositionellen Medien zurückzuführen?

Ja, durchaus. Die Ergebnisse in den großen Städten und in den Küstenregionen, da, wo oppositionelle Medien sitzen, zeigen, dass mehrheitlich gegen das Referendum gestimmt wurde. Es gab keine klare Mehrheit. Obwohl so viele kritische und oppositionelle Medien geschlossen wurden, konnte man sehen, dass sich die Bevölkerung ihren eigenen Reim auf die Dinge gemacht hat. Das zeigt auch etwas Positives. Das knappe Ergebnis und wo für Ja und Nein gestimmt wurde, das hat auch etwas mit den oppositionellen Medien zu tun. Aus diesem Grund vermuten wir, dass Erdogan versuchen wird, noch stärker Druck auszuüben.

Was kann der Leser für die Journalisten tun?

Es ist wichtig, dass möglichst viele Leute Bescheid wissen über die Situation, dass die Namen genannt werden – nicht nur von Deniz Yücel, sondern von vielen anderen Journalisten auch. Wir müssen darüber sprechen und berichten. Es darf sich nicht eine Art „Gewöhnungseffekt“ in Bezug auf die Türkei einstellen, weil in den vergangenen Wochen und Monaten so viel passiert ist. Ein weiterer Punkt, der sich nicht auf den Leser bezieht: Wenn deutsche Redaktionen einen türkischen Kollegen als Gastredakteur aufnehmen würden, sendet das ein Zeichen der Solidarität.

Welche Rolle spielen Online-Medien, Blogs und soziale Netzwerke für die Meinungsbildung in der Türkei?

Wir haben unter den angesprochenen „Inseln der Pressefreiheit“ einige Webseiten, die auch noch kritisch berichten können wie Diken und Bianet. Zweite ist unsere Partnerorganisation in der Türkei. Sie haben es aber schwer, sich finanziell über Wasser zu halten. Das ist auch ein großes Problem für die Medien. Es sind noch einige kritische Portale online, die noch nicht geschlossen wurden und gelesen werden.

Der libanesische Publizist Hazem Saghieh sagte kürzlich in einem Interview mit Blick auf den Journalismus in der arabischen Welt, der Journalismus dort würde eher dazu dienen, den politischen Status quo zu erhalten, für politischen Wandel tauge er nicht. Wie schätzen Sie das für die Türkei ein?

In der Türkei sind politische Einflussnahme, Selbstzensur und die Entlassung kritischer Journalisten alltäglich geworden. So haben etwa die Recherchen des weltweiten ROG-Projekts Media Ownership Monitor (MOM) gezeigt, dass sieben der zehn Besitzer der meistgesehenen landesweiten Fernsehsender direkte Verbindungen zu Präsident Recep Tayyip Erdogan und seiner Regierung haben. Doch auf der anderen Seite zeigt etwa die Berichterstattung der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Islamisten in Syrien oder über die Panama Papers, dass Journalismus in der Türkei nicht einfach nur dazu dient, den politischen Status quo zu erhalten.

Wir haben im Wahlkampf gesehen, dass ein Klima der Einschüchterung herrschte gegen Unterstützer eines „Nein“ zu den Verfassungsänderungen, das auch Journalisten und Medien zu spüren bekamen. Ein Beispiel war das Interview mit dem Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Die Zeitung Hürriyet hatte sich geweigert, ein Interview mit ihm abzudrucken, in dem er ankündigte, dass er gegen die Verfassungsreform stimmen möchte. Das zeigt das Klima der Einschüchterung.

Darüber hinaus hat ein Vertreter der pro-kurdischen Partei HDP bei der Rundfunkaufsicht RTÜK darüber Beschwerde eingelegt, wie ein staatlicher Fernsehsender nur einseitig berichtet habe. Zwischen dem 1. und dem 22. März habe der Sender 1.390 Minuten über Präsident Erdogan und 2723 Minuten über die Regierungspartei AKP berichtet, aber nur 216 Minuten über die größte Oppositionspartei CHP und 48 Minuten über die nationalistische MHP.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Martina Blatt.

Von: mab

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