Exodus nach 1.700 Jahren: Die letzten Christen fliehen

Terror und Krieg beherrschen den Südosten der Türkei. Die Gegend hat eine tiefe christliche Vergangenheit. Nun fliehen aus einigen Dörfern und Städten die letzten Christen. Ein Gastbeitrag von Timo Roller
Von PRO
Die Stadt Cizre in friedlicheren Zeiten im September 2013
Im Südosten der Türkei haben sich Überlieferungen nach wichtige Episoden aus der Bibel ereignet. Der Landesabschnitt hat eine zutiefst christliche Vergangenheit. In Edessa, dem heutigen Urfa, soll der erste christliche König residiert haben, der nach der Legende mit Jesus Christus selbst Briefe wechselte. Hierher kam nach einer Theorie das Leichentuch Jesu, das später als Turiner Grabtuch berühmt werden sollte. Armenien, das sich in der Antike noch weit in die Südosttürkei erstreckte, wurde im Jahre 301 zum ersten christlichen Staat der Welt. Die Stadt Nisibis war Bischofssitz und einflussreiches theologisches Zentrum für die Christenheit im ersten Millennium. Die Geschichte des Christentums in Nisibis endete nun nach über 1.700 Jahren. Heute heißt diese Stadt an der Grenze zu Syrien Nusaybin. Vor wenigen Wochen sind die letzten Christen geflohen, denn hier im Südosten der Türkei tobt ein Krieg des Militärs gegen kurdische Freiheitskämpfer. Zu leiden hat unter den Kämpfen vor allem die Zivilbevölkerung. Unmittelbar nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan angekündigt hatte, Unterstützern der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK die türkische Staatsbürgerschaft zu entziehen, begann in den vergangenen Tagen die massive Bombardierung der Stadt Nusaybin. Die christliche Familie, die nun geflohen ist, bewachte die altehrwürdige Jakobskirche. Bischof Jakob, der später heiliggesprochen wurde, ließ diese Kirche im 4. Jahrhundert errichten. Im Kellergewölbe der alten Ruine befindet sich sein Grab. Die Kirche wurde ab dem Jahr 2000 archäologisch erforscht, und auch wenn die alten Portale schon lange zugemauert sind, kann man an vielen Stellen im Inneren noch die kunstvolle Gestaltung der Bögen und Gesimse erkennen.

Der Berg Noahs

Hier liegen auch historische Spuren der Arche-Noah-Geschichte. Es heißt, dass schon der Heilige Jakob von Nisibis die Arche gesucht haben soll – die Christen Nordmesopotamiens lebten direkt im Land Noahs, Abrahams und anderer Erzväter, die aus der Bibel bekannt sind. In Cizre – ebenfalls vom Konflikt gezeichnet – gibt es eine Sehenswürdigkeit, von der nur wenige Christen wissen: „Noahs Grab“. Natürlich ist es mehr als fragwürdig, ob die Begräbnisstätte authentisch ist. Doch der Berg Cudi, der sich hinter der Stadt Cizre erhebt, ist nach muslimischer Tradition der Landeplatz der Arche. Nach meiner Überzeugung war in vergangenen Jahrhunderten auch unter Christen und Juden dieses Gebirge als biblisches Gebirge „Ararat“ bekannt. Lange bevor sich Bergsteiger und Arche-Suchmannschaften auf den Großen Ararat – unter Einheimischen eigentlich als „Agri Dagh“ bekannt – konzentrieren, waren sich der jüdische Geschichtsschreiber Josephus und nestorianische Christen sicher: Der Archeberg ist direkt hier, an der Grenze des Berglandes Ararat (assyrisch: „Urartu“) zur mesopotamischen Ebene. Laut alten assyrischen Quellen war es hier, wo Bischof Jakob von Nisibis nach der Arche gesucht haben soll, nicht auf dem Agri Dagh, wie Ararat-Erstbesteiger Friedrich Parrot glaubte. In der Umgebung von Haran, Abrahams Zwischenstation auf dem Weg nach Kanaan, befinden sich Stätten, die ihre Namen von den Vorfahren des Patriarchen haben: Nahor, Serug, Terach. Auch eine andere muslimische Überlieferung ist vielleicht wahr: Abrahams Ur könnte im türkischen Urfa liegen, nicht im südirakischen „Ur“. Vor allem die in der Bibel geschilderte Rückkehr nach Mesopotamien, um Ehefrauen für Isaak und Jakob zu suchen, spricht für die Urfa-Version. Heute gilt Urfa – das einst christliche Edessa – als Brückenkopf der Terrororganisation Islamischer Staat in die Türkei hinein, im Juli vergangenen Jahres riss ein Selbstmordattentäter in Suruç („Serug“) 33 Menschen in den Tod. Nusaybin sowie Cizre und Silopi am Fuße des Archebergs Cudi sind ebenso wie die Kurdenmetropole Diyarbakir von Kämpfen und Ausgangssperren betroffen.

Das Schicksal der Christen

Schon vor 100 Jahren wurden armenische, assyrische, aramäische und chaldäische Christen aus ihrer uralten Heimat vertrieben oder ermordet. Weitere Repressalien und Auswanderungswellen aus der Südosttürkei gab es in den 1990er Jahren. Christliche Gemeinden und einzelne Dörfer mit christlicher Bevölkerung gab es aber weiterhin. Die letzten Christen werden nun in unseren Tagen zerrieben im Kampf zwischen Islamisten, militanten Kurdengruppen und einer immer extremistischer handelnden Staatsmacht. Ein altes kurdisches Sprichwort lautet: „Wenn es Frieden gibt, beginnt er in Cizre. Und wenn es Krieg gibt, beginnt der auch hier.“ Genau dort, wo laut der gemeinsamen Tradition die Menschheit nach der Sintflut neu begann und wo Islam, Judentum und Christentum auf Noah blicken, auf den Vorfahren aller Menschen, wäre genau der richtige Ort für den Beginn eines Friedens unter Gottes Bundeszeichen. Aber ein Regenbogen ist nirgendwo zu sehen. (pro) Timo Roller ist Arche-Forscher, Autor des Buches „Das Rätsel der Arche Noah“ und betreibt die der Internetseite www.noahsark.site.
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/detailansicht/aktuell/ich-spuere-ihren-schmerz-91695/
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/weltweit/detailansicht/aktuell/die-arche-ist-kein-maerchen-87709/
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/weltweit/detailansicht/aktuell/pilgerziel-noahberg-90613/
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