Irak: „Die IS hat ihnen jede Würde genommen“

Der Terror der IS-Truppen hat ein neues Ausmaß erreicht. Selbst in Kurdistan fürchten sich die Menschen mittlerweile vor einem Einmarsch der Terroristen. Klaus Dewald, Leiter der Hilfsorganisation GAiN, erklärt, warum die Islamisten gestoppt werden müssen.
Von PRO
Klaus Dewald (Mitte) besuchte vor kurzem selbst ein Flüchtlingslager im Irak. Nun musste er seine Mitarbeiter wegen der gefährlichen Lage vorübergehend abziehen
Insgesamt hätten im autonomen Kurdistan etwa 750.000 Flüchtlinge Zuflucht gefunden. 200.000 von ihnen stammten aus Syrien und hausten in befestigten, organisierten Zeltlagern. 500.000 Menschen seien vor den Truppen der IS (Islamischer Staat) geflohen, etwa 50.000 von ihnen seien Christen. Das sind ungefähre Schätzungen, sagt Klaus Dewald, Leiter des deutschen Standorts der Hilfsorganisation Global Aid Network (GAiN). Viele Flüchtlinge verließen die Lager und kämen bei Verwandten unter, und immer wieder kämen neue dazu: „Es ist eine Wellenbewegung. Keiner kennt die absoluten Zahlen.“ Christen würden oft privat von kurdischen Familien aufgenommen – deren Wohnungen dann aus allen Nähten platzen. „In einer Dreizimmerwohnung leben jetzt 30 bis 40 Menschen. In jeden Raum werden ein oder zwei Familien aufgenommen. Ich frage mich, wie lange die das durchhalten können“, sagt Dewald. Die von der IS Vertriebenen fliehen über die Grenze ins autonome Kurdistan. Die Städte Erbil und Dohuk nahe des Grenzübergangs sind ihre Zufluchtsorte. Nicht nur in den Wohnungen, auch auf den Straßen der Städte seien die Zustände deshalb verheerend. Die Menschen hausten unter Brücken und am Straßenrand. Und dabei seien die Städte schon vor der durch die IS ausgelösten Flüchtingswellen mit der Einwohnerzahl überfordert gewesen. Auf lange Sicht befürchtet Dewald, der vor kurzem selbst vor Ort in einem Flüchtlingslager nahe Erbil war, deshalb auch in Kurdistan eine humanitäre Krise.

„IS muss vollständig gestoppt werden“

Mittlerweile ist die Lage in Kurdistan aber auch nicht mehr sicher. Das autonome Gebiet ist durch Grenzübergänge abgesichert. Die IS-Terroristen sind jedoch bereits weit in die Kurdenregion vorgedrungen, die Kämpfe werden mittlerweile direkt an der Grenze ausgetragen. Vergangenes Wochenende haben die Islamisten einen Grenzübergang nahe Erbil überrannt. Dewald war gezwungen, seine Mitarbeiter abzuziehen. Sein Team unterstützte bis vor kurzem ein Flüchtlingslager zwischen Erbil und Dohuk, zehn Kilometer von der Grenze entfernt. „Wir haben uns entschieden, dass wir unser Team rausholen, sobald die IS in der Lage ist, einen Grenzposten zu überrennen. Und das haben sie gemacht“, erklärt des Leiter der Hilfsorganisation. Wenn die IS den Grenzübergang als einen weiteren Schritt auch einnehme, sei sie innerhalb einer halben Stunde auch im Flüchtlingslager, befürchtet Dewald. „Die Front ist wirklich nahe heran gerückt.“ Derzeit kann GAiN nur über Einheimische Hilfe leisten. Doch auch in Kurdistan haben die Menschen Angst. „Es ist nicht so, dass es durch den Eingriff der Amerikaner sicher geworden ist“, sagt Dewald. Zwar konnten die Islamisten durch gezielte Angriffe an der Grenze zu Kurdistan gestoppt werden. Es verändere aber nicht viel, „einen einzigen Pick-up an der Grenze abzuschießen. Die gehen zurück nach Mossul, rauben den nächsten Pick-up und weiter geht‘s“. Der Eingriff der USA reiche nicht aus, sagt er deswegen. Die IS müsste vollständig gestoppt werden. Das könnten nur die Kurden im autonomen Gebiet. Sie seien die einzige stabile politische Macht im Irak. Deshalb sollten sie auch unterstützt werden. „Denen keine Waffen zu geben, weil sie danach eventuell ihren eigenen Staat ausrufen könnten, heißt für mich im Klartext, die Terroristen zu unterstützen“, sagt der Leiter von GAiN. Es sei „allerhöchste Zeit“ gewesen, dass zumindest die Amerikaner eingegriffen hätten. Denn: Egal, ob es Christen, Jesiden oder Schiiten, die selbst Moslems sind, seien – die IS „macht vor nichts halt“, sagt Dewald und beschreibt die Brutalität der Terroristen: Zwar hätten die Minderheiten zunächst fliehen dürfen. „Die IS hat ihnen aber alles, jede Würde, genommen. Es geht nicht einmal um Gold oder Silber. Alten Damen wurde das Gebiss und die Brille geklaut, damit sie nicht mehr essen und nicht mehr sehen können.“ Menschen seien auf Berge gejagt worden, weil man gewusst habe, dass sie dort wegen Wassermangel und der großen Hitze von 45 Grad sterben würden. „Und wenn sie wieder runter gekommen wären, hätte man sie abgestochen“, erklärt Dewald.

„Man schaut zu, wie eine Terrorgruppe Genozid begeht“

Vom Beitrag Deutschlands ist er enttäuscht. „Man will überall mitreden und sich in der Außenpolitik engagieren. Es gibt einen Haufen Sitzungen, die viel Geld kosten und doch passiert nichts“, sagt er. Gleichzeitig würden hochmoderne – unter anderem deutsche – Waffen nach Saudi-Arabien und Katar verkauft. „Und dann hört man Sprüche wie zum Beispiel: ‚Wir liefern nicht in Krisengebiete.‘ Die IS hat guten Nachschub. Wer auch immer dahinter steht und die mit Waffen versorgt, wenn die Amerikaner einen Panzer der IS zerbomben, haben die gleich wieder einen neuen“, empört sich Dewald. Man schaue zu, wie eine hoch aufgerüstete Terrorgruppe Genozid begeht. „Mich würde interessieren, wie viele westliche Waffen da im Spiel sind.“ GAiN will trotz der gefährlichen Lage weiter Hilfe leisten. Ein LKW mit Babynahrung steht gerade an der Grenze von der Türkei nach Kurdistan. Ein weiterer Transporter wird zurzeit in Deutschland mit Matratzen, Decken und Hygieneartikeln beladen. „Ich weiß, dass die Flüchtlinge jetzt Hilfe und Zuspruch brauchen“, erklärt Dewald. Er möchte seine Mitarbeiter deshalb so schnell wie möglich wieder ins Land schicken. „Wahrscheinlich gehe ich auch selbst wieder mit“, sagt er. (pro)
https://www.pro-medienmagazin.de/politik/detailansicht/aktuell/bosbach-fordert-verschaerfte-ausweiseregeln-fuer-islamisten-89001/
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/weltweit/detailansicht/aktuell/irak-es-ist-ein-regelrechtes-gemetzel-88986/
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/weltweit/detailansicht/aktuell/irak-99-prozent-wollen-einfach-nur-frieden-88549/
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