„In Polen stirbt vor unseren Augen das Christentum“

Ein Pater fordert in einer Streitschrift einen humanitären Umgang mit Flüchtlingen und greift die katholische Kirche sowie die Regierung scharf an. Die Polen müssten sich zwischen dem Papst und Kaczynski entscheiden. Ein Beitrag von Die-Welt-Korrespondent Gerhard Gnauck
Von PRO
In Polen seien Feindschaft, Hass und nationale Ideologien in die Kirche eingedrungen, klagt der polnische Dominikaner Ludwik Wisniewski

Eine solche Streitschrift hat es in Polens mächtiger katholischer Kirche noch nicht gegeben. „Ich klage an“ – unter dieser Überschrift erhebt ein zorniger alter Priester seine Stimme. Wie vor 120 Jahren in Frankreich Émile Zola („J’accuse“), wendet sich jetzt der polnische Dominikaner Ludwik Wisniewski an das Publikum seines Landes. Wisniewski schreibt: „In Polen stirbt vor unseren Augen das Christentum.“ Feindschaft, Hass und nationale Ideologie seien „wie Gift“ in die Kirche eingedrungen.

Schlimmster Ausdruck dessen sei die verbreitete Mentalität der Abschottung und die von vielen Katholiken unterstützte rigide Flüchtlingspolitik der polnischen Regierung, kritisiert der 81 Jahre alte Pater.

Etwas Schlimmeres kann man der Kirche nicht vorwerfen. Erwartungsgemäß stoßen seine Anklagen auf Kritik, beim liberalen Flügel der Kirche jedoch auch auf vorsichtige Zustimmung.

Politik gegen den Papst

Es dürfe nicht länger sein, schreibt Wisniewski weiter, dass die Regierung ihre Weigerung, muslimische Flüchtlinge aufzunehmen, mit der „Verteidigung Polens und des Christentums“ rechtfertige. Die Regierung hatte sich Schritt für Schritt von der Zusage ihrer Vorgängerin verabschiedet, 7. 000 Flüchtlinge aus anderen EU-Ländern aufzunehmen, und das mit Sicherheitsbedenken begründet.

Sogar ein kleines humanitäres Projekt der Bischofskonferenz in Polen für kriegsverletzte Syrer hatte sie blockiert und stattdessen Hilfsgelder für Projekte vor Ort erhöht.

Diese Politik, meint Wisniewski, sei auch gegen die Haltung von Papst Franziskus. Damit stellt er die Kirche und die zu fast 90 Prozent katholischen Polen vor die Wahl, in dieser Frage entweder dem Papst zu folgen oder dem Chef der katholisch geprägten Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski. Bisher sah es eher nach einem Bündnis zwischen Kirche und PiS aus. Die nationalkonservative Partei hält die Kirche als Hüterin der Tradition in hohen Ehren.

Der liberale Flügel in der Kirche war in letzter Zeit in der Defensive, zumal seine informelle Führungsfigur, Kardinal Stanislaw Dziwisz, der einstige Sekretär Papst Johannes Pauls II., in den Ruhestand gegangen war. Doch jetzt treibt Wisniewski einen Konflikt, der bisher nur vor sich hinköchelte, auf einen Höhepunkt.

Der Pater erwähnt in seinem Appell auch die Tatsache, dass nur noch knapp 37 Prozent der Katholiken in Polen regelmäßig in die Kirche gehen. Das liege sicher an der Politisierung dieser Institution, die dazu geführt habe, dass viele vermeintliche Christen jetzt angebliche Feinde „bespucken und verhöhnen … und gleichzeitig fromm die Hände zum Gebet falten und sich betend den Medien zeigen“.

Das sei „eine Parodie des Christentums“. Wisniewski greift insbesondere ihren national-katholischen Flügel um den Sender „Radio Maryja“ an. Und er fordert die Bischöfe direkt heraus: Sie müssten jetzt intervenieren.

Zwei Drittel der Polen gegen Aufnahme von Flüchtlingen

Wisniewski zitiert Umfragen, wonach vor zehn Jahren noch 70 Prozent der Polen für die Aufnahme von Flüchtlingen waren. Heute seien 63 Prozent dagegen. Er lobt den Versuch der Bischofskonferenz, über einen „humanitären Korridor“ zumindest einige Dutzend kriegsverletzte Menschen aufzunehmen. Dass die Regierung selbst das unter Berufung auf Sicherheitsbedenken abgelehnt habe, macht ihn fassungslos: „Eine größere Heuchelei kann man sich nicht vorstellen.“

Ihre Flüchtlingspolitik – Warschau hatte, wie viele andere EU-Länder, eine Flüchtlingsverteilung über verpflichtende Quoten abgelehnt – nennt er „schändlich“. Den Abgeordneten ruft er zu: „Ihr zerstört das Christentum!“

Pater Wisniewski war selbst einmal Flüchtling oder besser: Vertriebener. 1936 wurde er in dem ostpolnischen Dorf Skierbieszow nahe Lublin geboren, das im Krieg von deutschen Einheiten fast völlig niedergebrannt wurde. Das geschah im Rahmen der „Aktion Zamosc“, in der 110.000 Polen vertrieben wurden, um Deutsche anzusiedeln – darunter eine Familie Köhler, in der Horst Köhler geboren wurde, der spätere Bundespräsident.

In kommunistischer Zeit war Wisniewski in mehreren Städten Studentenseelsorger und unterstützte die demokratische Opposition. Damals geriet er ins Visier der Behörden und sogar der DDR-Stasi, die sich immer wieder Sorgen machte um die „Stabilität“ der Diktatur im Nachbarland; sie führte Wisniewski auf einer Liste der wichtigsten Regimegegner. Heute lebt er in Lublin im Dominikanerkloster.

Seine Anklageschrift stieß auf ein geteiltes Echo. In liberalen weltlichen und kirchlichen Medien gab es Zustimmung. „Ich werde von Bekannten, die nicht mehr in die Kirche gehen wollen, mit Mails überschüttet“, berichtete der liberale Theologe Alfred Wierzbicki. Er halte die Erklärung des Paters, warum die Kirchenbesuche ein Rekordtief erreicht hätten, für zutreffend.

Die regierungsnahen Medien dagegen drehten den Spieß um und sprachen Wisniewski das Recht ab, sich katholisch nennen zu dürfen. „Die polnischen Katholiken sind ein Gewissensbiss für Westeuropa, sie sind ein Zeichen des Widerspruchs in der Welt, und sie werden es bleiben“, schrieb das rechte Portal Wpolityce.pl. Die „verrückten Appelle Wisniewskis“ könnten die Kirche nicht von ihrem „konsequenten, tiefen und treuen Weg“ abbringen.

Nachdenkliche Kirchenführung

Die Anklageschrift des Paters kommt zur rechten Zeit. Denn auch in der Kirchenführung hat offenbar – auch nach den schlechten Erfahrungen mit dem humanitären Hilfsprojekt – ein Nachdenken eingesetzt. Es wirkt, als ob der Bedarf nach einer liberal-katholischen Alternative gewachsen ist.

Fast gleichzeitig mit Wisniewskis Appell verkündete Erzbischof Stanislaw Gadecki, dass die mehrheitliche Ablehnung einer Aufnahme von Flüchtlingen in der Bevölkerung für Christen überhaupt kein Argument sei. „Und selbst wenn 99 Prozent sagen, man dürfe sie nicht aufnehmen und ihnen nicht helfen, so richten wir uns trotzdem nicht danach.“

Das Streben des Staates nach Sicherheit sei wichtig, aber egoistisch; für die Kirche gelte: „Der Mensch steht an erster Stelle“. So weit sind die Oberhirten noch nie gegangen. Aber Wisniewskis Anklageschrift war für die Amtskirche dennoch allzu scharf. Ihr Sprecher wies sie als „beleidigend“ zurück und verwies auf die zahlreichen Gottesdienste für Flüchtlinge und Migranten.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitung Die Welt. Wir danken für die Genehmigung zum Abdruck.

Von: Gerhard Gnauck

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