Einsamkeit gibt es nicht nur jetzt, aber sie fällt mehr auf

Schon wieder wird das gesellschaftliche Leben heruntergefahren. Der erneute Lockdown und die Kontaktbeschränkungen dürften vor allem für Menschen schwer sein, die alleine leben. Pro hat bei der Theologin Astrid Eichler nachgefragt, die das Netzwerk Solo&Co. leitet.
Von PRO
Astrid Eichler wünscht sich offen Augen für die Anliegen von Singles und Einsamen

pro: Frau Eichler, was bedeutet das Herunterfahren des öffentlichen Lebens für Singles?

Eichler: Das kann man natürlich nicht pauschal sagen, denn die Lebenssituation der Singles ist sehr unterschiedlich. Es gibt Singles, die damit weniger Probleme haben und welche, für die es kaum zu ertragen ist. Viele von ihnen wohnen nicht nur allein, sondern arbeiten im Homeoffice oder arbeiten als Rentner gar nicht mehr. Für sie ist Einsamkeit vorprogrammiert. Die Feiertage sind bei uns in Deutschland doch sehr von der Familie geprägt. Für viele Singles ist es eine Zumutung, dann nicht mit anderen zusammen sein zu können. Wenn sich nur zwei Haushalte treffen dürfen, sind es für Singles oft auch nur zwei Personen, die da zusammenkommen dürfen. Das ist für Manche eine große Herausforderung.

Ist Einsamkeit noch immer ein Tabuthema?

Das hat sich in meiner Wahrnehmung in den letzten Jahren etwas verändert. Es gibt zunehmend Beiträge in Zeitschriften und ganze Bücher darüber. Immerhin gibt es in Großbritannien seit 2018 ein Einsamkeitsministerium. Überlegungen dazu gibt es auch in Deutschland. Man darf inzwischen darüber reden. Es ist aber immer noch etwas anderes, ob man darüber redet wie über Kochrezepte oder Baumkrankheiten oder ob es einen persönlich betrifft. Es gehört immer noch viel Mut dazu zu sagen, dass man einsam ist. Im Hintergrund steht doch das Gefühl oder die Frage: Was habe ich falsch gemacht?

Was sollten Singles tun, um in der gegenwärtigen Situation nicht zu vereinsamen?

Auch da habe ich kein Rezept, das alle Singles anwenden können. Dafür sind sie und ihre jeweiligen Situationen einfach zu verschieden. Trotzdem versuche ich Impulse zu geben, die mir sehr wichtig sind: „Hab Acht auf deine Gedanken! Du musst kein Opfer des Alleinseins werden.“ Einsamkeit gehört zum Wesen des Menschen dazu. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist“ (1. Mose 2,18a). Das gehört zu unserer menschlichen Beschaffenheit dazu und ist kein Grund für Scham. Aber wir müssen auch im Blick haben, dass kein Mensch dieser Welt die tiefste Einsamkeit eines Menschen ausfüllen kann. Nein, wir sind auf Gott hin geschaffen und viele Verheiratete erleben das in ihrer Ehe mitunter schmerzlich, dass die tiefste Einsamkeit auch nicht durch den Partner ausgefüllt wird. Da haben wir als Singles sogar eine Chance, dass wir mit der tiefsten Sehnsucht, die in uns wohnt, viel schneller, viel existenzieller bei Gott ankommen und er dieser Sehnsucht begegnet.

Sie bezeichnen das als Chance …

Es gibt Aspekte der Einsamkeit, die eine Chance in sich tragen und es gibt den Strudel, der nach unten führt. Es ist gut einen Gesprächspartner zu suchen, bevor eine Negativschleife der Einsamkeit beginnt. Das kann ein vertrauter Mensch sein, aber auch professionelle Seelsorger, Berater oder Psychologen, die mit mir meine Einsamkeit anschauen. Ich rate dazu, die eigenen Tage bewusst zu gestalten, nicht einfach rumzuhängen, aber auch nicht immer zu arbeiten. Es ist wichtig, ganzheitlich zu leben. Es ist gut, treu seine Pflichten zu erfüllen. Es ist nicht egal, wie es in meiner Wohnung aussieht, wie ich aussehe, was ich esse, wie ich meine Zeit verbringe. Es ist gut, wenn ich jeden Tag etwas vorhabe, worauf ich richtig Lust habe. Gesunde Ernährung. Bewegung. All das sind Faktoren des Lebens, die unter dem Gefühl der Einsamkeit verloren gehen können. Das heißt auch, vor der Einsamkeit nicht in die Arbeit zu fliehen. Das ist eine große Gefahr gerade auch für Singles. Ich nenne es gern das Arbeiten-Essen-Schlafen-Syndrom. Dann merkt man die Einsamkeit nicht. Wer lange so lebt, verliert immer mehr soziale Kompetenz und Gemeinschaftsfähigkeit. In der Einsamkeit verkümmern Fähigkeiten, die wir brauchen, um mit anderen Menschen zusammen zu sein.

Was kann die Gesellschaft tun, um Singles und Einsame nicht aus dem Blick zu verlieren?

Sie sollten sich wirklich für den Menschen interessieren, der allein lebt, und die Einsamkeit nicht wie eine Krankheit betrachten. Als Single zu leben ist nicht gleichzusetzen mit Einsamkeit. Das Single-Sein birgt die Gefahr in sich, einsam zu werden. Ganz schwierig ist es für Menschen, die plötzlich allein sind, nach Trennung, Scheidung oder dem Tod des Partners. Viele Ehepaare sind sich selbst so sehr genug, dass es gar keine anderen Beziehungen mehr gibt. Es sollte normal sein, dass Ehepaare, Familien in ihrem Freundeskreis Singles haben.

Welche Möglichkeiten bieten die neuen Medien, aber auch welche Hürden sind damit verbunden?

Chancen und Gefahren liegen sehr dicht beieinander. Gerade aktuell nutzen wir die Chancen in unserem Netzwerk Solo&Co enorm. Es gibt ganz viele Vernetzungen in Videokonferenzen. An den Adventssonntagen etwa haben wir jeweils ein gemeinsames Angebot gemacht mit über 60 Teilnehmern. Da muss niemand irgendwo allein sein. Es gibt Spiele-Abende, Krimi-Dinner, Sonntagsbegrüßungen. Auf der anderen Seite haben die Medien, auch der Fernseher, ein nicht zu unterschätzendes Suchtpotenzial. Da ist es wichtig, sich selbst immer kritisch zu beobachten. Medienkonsum kann unendlich einsam machen. Die Hürden gibt es natürlich auch, vor allem für die Älteren. Da kann ich nur ermutigen, die Chance zu nutzen und mit der „guten“ Nutzung der neuen Medien der Einsamkeit entgegenzutreten.

CDU und CSU haben im Bundestag eine Strategie gegen Einsamkeit gefordert. Wie könnte die aus Ihrer Sicht aussehen?

Wenn eine Strategie sinnvoll sein soll, muss ihr eine gute Analyse vorausgehen. Einsamkeit muss analysiert und differenziert werden, damit man nicht in Aktivismus verfällt und jemanden mit der Gießkanne losschickt, um eine Wüste zu bewässern. Die Aufgabe erfordert gründliche Arbeit und muss interdisziplinär erfolgen. Vor allem müssten die Menschen, die Spezialisten zu dem Thema sind, die Einsamen selbst, einbezogen werden.

Braucht es, wie vorgeschlagen, einen Einsamkeitsbeauftragten bei der Bundesregierung?

Ob das ein Beauftragter bei der Bundesregierung sein muss, weiß ich nicht. Aber das Thema braucht Aufmerksamkeit. Und vielleicht ist das dann genau die richtige Stelle. Man könnte ja mal in Großbritannien schauen, wie es mit dem dortigen Ministerium läuft und von den Erfahrungen lernen. Zumindest sollte man jetzt an dem Thema dranbleiben. Die Corona-Krise macht an manchen Stellen etwas deutlich, was sonst nicht wirklich bewusst ist. Bei diesem Thema ist es so. Einsamkeit gibt es nicht nur jetzt, aber jetzt fällt sie mehr auf.

Wenn Sie sich etwas wünschen dürfen: Was wünschen Sie sich im Umgang mit Singles?

Wahrnehmung der Lebenssituation. Ich erlebe in Gesprächen immer wieder, wie mir manchmal nach nur wenigen Minuten mein Gegenüber sagt: „Was du mir eben erzählt hast, darüber habe ich noch nie nachgedacht.“ Ich wünsche mir offene Fragen, ohne dass das Gegenüber schon meint zu wissen, wie das ist mit den Singles und warum sie so sind, wie sie sind, und was sie anders machen müssten. Neben unvoreingenommenen Gesprächen braucht es gegenseitige Neugier, damit wir einander mit unseren Gaben dienen und uns in unseren jeweiligen Herausforderungen beistehen können.

Vielen Dank für das Gespräch.

Astrid Eichler, Jahrgang 1958, lebt in der Nähe von Berlin. Sie ist Teil einer kleinen Lebensgemeinschaft. Früher war sie Gemeindepfarrerin in der Prignitz, dann Gefängnisseelsorgerin in Berlin. Jetzt leitet sie die Geschäftsstelle von EmwAg e.V./Solo&Co, dem Netzwerk christlicher Singles und der Fachstelle Gemeinschaft. Ehrenamtlich engagiert sie sich in der Gefängnisarbeit.

Die Fragen stellte Johannes Blöcher-Weil

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