Engel mit Deutschlandtrikot

Menschen mit Down-Syndrom leisten heute Dinge, die zuvor undenkbar waren. Zwei pro-Redakteure haben einen Jungen mit Down-Syndrom einen Tag lang begleitet.
Von PRO
Michael (Michi) Offermann hat Down-Syndrom. Er besucht die Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Schule in Wetzlar, eine integrative Gesamtschule.

Eine Umarmung und ein herzlicher Fauststoß: „Hi, ich bin Michi. Wie heißt du?“ Das Eis ist schnell gebrochen, als Michi Offermann die beiden Journalisten, die ihn für einen Tag begleiten möchten, im Foyer seiner Schule begrüßt. Zusammen mit Klassenkameradin Mara ist er heute mit seinem Referat über den Entdecker Christoph Kolumbus dran. Dazu haben sich die beiden Fünftklässler eine Gliederung überlegt, ein Plakat gebastelt und Moderationskarten für die Präsentation vorbereitet. Recherchiert haben sie auf ihren iPads im Internet und in Büchern. Nach der Präsentation müssen sich die beiden der Kritik ihrer Mitschüler stellen. Die haben wenig zu bemängeln, auch die Klassenlehrerin findet das Referat gut.

Michi freut sich ausgelassen über die Anerkennung der Schulkameraden, er lacht und verbeugt sich, als wäre er ein Künstler, Mara errötet nur leicht und lächelt. Michi hat Down-Syndrom und ist oft überschwänglicher mit seinen Emotionen. Die Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Schule in Wetzlar ist eine private, integrative Gesamtschule mit kleinen Klassen. Die Schüler bekommen einen Unterricht, der jeweils auf ihre individuellen speziellen Fähigkeiten und Entwicklung zugeschnitten ist.

Das Konzept bietet somit auch eine günstige Umgebung für Kinder, die sonderpädagogische Förderung brauchen. Dazu gehören Kinder mit Down-Syndrom wie Michi. Individualisierte Wochenpläne helfen dem 13-Jährigen, mit Unterstützung seiner Förderpädagogin und Schulbegleiterin Gabriele Harfst an den Themen der Klasse teilzunehmen. Wenn es notwendig ist, erhält er komplett eigene Aufgaben und Einzelförderung. Aber er ist, wann immer es geht, im Klassenraum mit den Mitschülern zusammen. Es fällt kaum auf und stört nicht, wenn Michi in den Stillarbeitsphasen andere Bücher oder Arbeitsblätter mit mehr Anschauungsmaterial verwendet.

Eine Eins im Vokabeltest

Dazu kann sich Michi, meist zusammen mit Mara, die keine Behinderung hat, aber in Michis Nachbarschaft wohnt, in einen durch eine Glaswand abgeschirmten Bereich des Klassenzimmers zurückziehen. Mara findet das prima. „Es ist dann oft noch ruhiger hier als in der Klasse“, sagt sie. Und dass die Förderlehrerin dabei ist oder Michi mal laut liest, stört Mara auch nicht. „Nö, das ist ganz normal.“ Biologie macht Michi richtig viel Spaß. Der Bio-Lehrer hält Michi für einen der aufmerksamsten Schüler in der Altersstufe. Englisch jedoch ist zur Zeit Michis Lieblingsfach.

„Beim Vokabeltest habe ich eine Eins geschrieben“, sagt er stolz und präsentiert sein Arbeitsblatt. Auch wenn die Schrift etwas krakelig ist – nur ein Fehler. Fleiß und Ausdauer waren notwendig, um das zu erreichen. „Es ist nicht mit einer Übung getan“, erklärt Harfst, die das Unterrichtsmaterial für Michi anpasst und Wert legt auf anschauliche Übungen und viele Wiederholungen. Bei Klassenarbeiten möchte Michi aber häufig unbedingt mitschreiben, verrät seine Förderlehrerin. Seine Leistungen in Rechtschreibung seien so gut, dass er bei geübten Diktaten im Klassenverband dabei ist und meistens gute Ergebnisse erreicht.

In anderen Fächern schreibt er Klassenarbeiten, die für sein Leistungsniveau individuell entworfen sind und benotet werden. Damit er grundlegende schulische Fähigkeiten vertiefen und mit Kindern im ähnlichen emotionalen Entwicklungsstand in einer Klasse sein konnte, hat Michi nach einem Schulwechsel zwei Jahrgangsstufen wiederholt. Mara und Michi sind ein gutes Team. Das gilt für den Unterricht, aber auch für die Pausen. Zusammen mit den anderen Kindern toben sie auf dem Schulhof, raufen, spielen und lachen zusammen. Die Mitschüler gehen ganz selbstverständlich damit um, dass Michi etwas anders ist als die anderen, mehr Hilfestellung bekommt. Das liegt auch an den drei R, den drei Regeln der Raiffeisen-Schule: „Ruhe, Respekt, Rücksicht“.

Michael Offermann benutzt, wie andere Kinder im Unterricht der integrativen Gesamtschule auch, ein Tablet für die Lösung von Aufgaben Foto: pro/Norbert Schäfer
Michael Offermann benutzt, wie andere Kinder im Unterricht der integrativen Gesamtschule auch, ein Tablet für die Lösung von Aufgaben

Lebensretter Michi

Michi genießt schon ein paar Freiheiten, aber an die Regeln muss er sich auch halten. Darüber wacht Frau Harfst. „Michi hat nicht so ein Gespür für Nähe und die nötige Distanz, wie wir das in unserer Kultur kennen“, sagt sie. Das sei typisch für viele Kinder mit Down-Syndrom. „Er drückt schon mal einfach einen Mitschüler – oder einen Lehrer. Eine eiserne Regel lautet seit dem Schulbeginn: Nur innerhalb der Familie werden Menschen geküsst, nicht in der Schule.“

Das hat Michi auch sechs Jahre lang befolgt. Bis zu jenem Tag, als er geradewegs auf eine junge Mitarbeiterin der Schule zuging, sie umarmte, küsste und nochmals fest drückte. Noch bevor Michi sich eine Rüge für dafür einholen konnte, sagte die junge Frau unter Tränen: „Michi ist ein Engel gewesen.“ Bis dahin wusste niemand ihrer Kollegen, dass sie an einer besonderen Krankheit litt und mit dem Gedanken spielte, sich umzubringen. Michis herzliche Umarmung hielt sie wohl davon ab.

Dass der Junge etwas Besonderes ist, merkt man allerorten. Er nimmt Besucher an die Hand, führt sie durch die Schule, zeigt die Klassen und stellt die Lehrer vor. „Hallo Michi“ – alle kennen und schätzen den Jungen. Er hat auch keine Hemmungen, unvermittelt beim Rektor der Schule, Georg Pflüger, vorbeizuschauen, der gerade eine Besprechung hat, was den Pädagogen aber nicht in Bedrängnis bringt. „Soviel Zeit muss sein.“ Einen „Michi“ wünscht sich der Schulleiter in jeder Klasse. Bislang hat die Schule zwei Inklusionskinder in neun Altersstufen.

Nach der Schule sind die Besucher zum Mittagessen bei Michis Familie eingeladen. Frau Harfst muss auch mitkommen. Gastfreundschaft ist für den Heranwachsenden eine Herzensangelegenheit: „Wenn es nach Michi ginge, müssten wir zum 14. Geburtstag das Bürgerhaus im Ort mieten“, erklärt Mutter Judith lachend. Sie war 34 Jahre alt, als Michi zur Welt gekommen ist. Sie und ihr Mann Thomas haben viel investiert für ihren Filius. Bewegungstherapie, Logopädie, Frühförderung, Gymnastik – das alles brauchte seine Zeit, der Alltag musste oft um Michi und seine Bedürfnisse herum organisiert werden.

Vater Thomas arbeitet in einem „nine to five Job“ mit geregelten Arbeitszeiten als Bilanzbuchhalter. Das kommt dem Familienleben zugute, denn so sind die Abende und Wochenenden für Familie und sonstige Aktivitäten frei. Seine Frau strahlt Ruhe und Gelassenheit aus – ohne die wäre es für alle in der Familie schwerer gewesen.

Dass das Chromosom Nummer 21 bei dieser Krankheit dreimal statt zweimal vorkommt, hat oft zur Folge, dass das Bindegewebe oder die Muskeln schwächer ausgebildet sind. Das gilt auch für die Zunge und hat Auswirkungen auf die Sprache. Michi übt mit seiner Mutter „Zunge fangen“, damit der Muskel stark bleibt und die Aussprache deutlicher wird. Die Mutter hält dann mit einem Gummi die Zunge fest, Michi muss sie aus der Umklammerung lösen. Michi hat bisher bei allen Therapien mitgemacht. Er genießt die extra Zeit für ihn. Der Organismus von Menschen mit Down-Syndrom ist auch oft anfälliger für Infektionskrankheiten. Michi hat oft trockene Haut, aber öfter erkältet als andere Kinder ist er nicht. Michi muss ein Schilddrüsenpräparat einnehmen. Die körperlichen Defizite konnten durch die Gymnastik und die Frühförderung kompensiert werden. Ein weiteres Merkmal des Gendefektes sind die mandelförmigen Augen.

„I love my life“

Mittags sind auch drei der insgesamt vier Geschwister von Michi mit am Tisch. Peter ist 22 Jahre alt und studiert Elektrotechnik, Kathrin macht eine Lehre zur Augenoptikerin, Karolin schreibt nächstes Jahr Abitur, der älteste, Phillip, ist noch auf der Arbeit. „Dass etwas nicht stimmt, habe ich gemerkt, als Oma nach der Geburt geweint hat“, erinnert sich Peter. Dass die Eltern mehr Zeit für Michi einplanen mussten, hat die Geschwister nicht gestört. Was Schwester Kathrin auf die Palme bringt, ist, wenn jemand abfällige Bemerkungen oder Späße über Menschen mit Behinderung macht.

Dann wird ihr der Kragen eng: „Boah, die haben echt keine Ahnung, was das bedeutet.“ Der Zusammenhalt erscheint enorm. Vater Thomas hat eine digitale Bilderserie mit Fotos von fröhlichen Feiern, Familienalltag, Urlauben und Ausflügen mit Musik hinterlegt. „I love my life“, singt Michi fröhlich mit. Ja, er liebt das Leben, und seine Eltern und Geschwister lieben ihn – auch wenn es nicht immer einfach ist.

„Weißt du noch, Mama, am Gardasee?“, erinnert sich Tochter Karolin. Da war Michi ausgebüchst und Eltern und Geschwister mussten ihn auf dem Campingplatz suchen. Michi spielt gerne draußen. Fußball mag er besonders. Das Trikot der Nationalmannschaft trägt er oft. Er spielt auch Handball, Cajon und Trompete. Mama Judith übt mit ihm. Außerdem singt er im Kinderchor und besucht die Gruppenstunden der Evangelischen Freien Gemeinde, in der sich auch seine Eltern engagieren.

Weil das Essen noch nicht fertig ist, muss Bruder Peter Michi jetzt am Klavier begleiten. Er gibt den Takt vor. Dann spielt Michi „Der Mond ist aufgegangen“ auf seiner Trompete. Das Tischgebet will der Jüngste selbst sprechen. „Vater, segne diese Speise, …“. Dann teilt er das Essen aus. „Nein, wir hatten keine Ahnung“, sagt Michis Mutter rückblickend. Eine spezielle Untersuchung, etwa wegen des Verdachts einer Risikoschwangerschaft aufgrund des Alters, habe es nicht gegeben. „Bei der zweiten Regeluntersuchung am dritten Tag nach der Geburt habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Der Arzt hat sich extrem viel Zeit genommen, hat hier und da gemessen, wollte Blut abnehmen bei Michi und hat den Verdacht geäußert, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte.“

Die Zeit des Wartens auf das Ergebnis, sagt die Mutter, sei das Schlimmste gewesen. „Die Ungewissheit, ob und was mit Michi nicht stimmt, war furchtbar.“ Als dann Klarheit bestand, dass Michi Trisomie 21 hat, sei es einfacher geworden. „Dann konnten wir uns darauf einstellen.“ Nach der Diagnose half ihr vor allem das Lied „Für heute und hier“ des christlichen Sängers Manfred Siebald. Es handelt davon, dass Gott einem für eine konkrete Situation und den nächsten Schritt die nötige Kraft gibt. Unterstützung hat die Familie auch von Mitgliedern ihrer Gemeinde bekommen, etwa indem diese hin und wieder Essen kochten oder die älteren Geschwister von der Schule abholten. Die Mutter ist froh, dass ihr Sohn mit Unterstützung durch Schulbegleitung und sonderpädagogische Förderung jetzt selbst in eine normale Regelschule gehen kann.

Michi hilft beim Tischabräumen, und bevor er zur Oma darf, möchte er noch sein Zimmer zeigen. Die Matchbox-Spielzeugautos stehen ordentlich aufgereiht auf dem Tisch, unter dem Hochbett sind die Spielsachen in Boxen verstaut. Tipptopp aufgeräumt. Beim Abschied will Michi wissen, ob er er mal die Redaktion besuchen darf. Klar, darf er das. Fröhliche, herzliche Menschen sind willkommen. Dass Menschen mit Down-Syndrom das irgendwie genetisch bedingt mitbringen, erscheint wie ein besonderes Geschenk.

Von: Norbert Schäfer und Johannes Blöcher-Weil

Dieser Text erschien erstmals in der Ausgabe 2/2017 des Christlichen Medienmagazins pro. Wir haben ihn anlässlich des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderung erneut veröffentlicht.

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