Oh, Gott!

In der Berichterstattung über den Brückeneinsturz in Genua gerät ein verheerendes Attentat in Kabul fast zur Randnotiz. Warum beschäftigt uns das eine Leid mehr als das andere? Ein Kommentar von Nicolai Franz
Von Nicolai Franz
Das Polcevera-Viadukt wurde 1967 fertig gestellt. Am 14. August 2018 stürzte es teilweise ein.

Eigentlich wollte Davide Di Giorgio nur den Regen in Genua aufzeichnen, bis er plötzlich ruft: „Oh, dio! Oh, dio! Oh, dio!“ Oh, Gott! Der westliche Pfeiler des Polcevera-Viadukts stürzt in sich zusammen.

Oh, dio.

Mindestens 30 PKW und mehrere Lastwagen stürzen 42 Meter in die Tiefe. Mehr als 40 Menschen sterben. Medien bringen minütlich neue Details zum Unglück, darunter auch Ermutigendes. Ein LKW-Fahrer hat es geschafft, zehn Meter vor dem Abgrund stehen zu bleiben. Bilder zeigen seinen einsamen grünen Lastwagen auf dem verbliebenen Brückenstück. Ein ehemaliger Fußballprofi hat den Absturz überlebt. Wie, das weiß er nicht. Das Unglück in Genua wird schnell Gesprächsthema Nummer eins auf der Straße, in Familien und Büros.

Nur einen Tag nach dem Unglück von Genua sterben in Kabul noch mehr Menschen. Ein Selbstmordattentäter reißt in einem Schiitenviertel fast 50 Personen mit in den Tod. Die Meldung über den blutigen Terror in Afghanistan geht in der Berichterstattung trotzdem schnell unter. Die Menschen wollen offenbar mehr über Genua wissen. Warum?

Mulmiges Gefühl auf Autobahnbrücken

Plötzlich abzustürzen, den Boden zu verlieren, das ist eine der Grundängste des Menschen. Viele kennen den bösen Traum, plötzlich und ohne Vorwarnung zu fallen. Den Boden unter den Füßen zu verlieren, steht sinnbildlich für den kompletten Kontrollverlust, für das plötzliche Verschwinden von allem, von dem man dachte, es würde tragen.

Und: Kabul ist weit weg, Genua nicht. Die Handelsstadt mit dem größten Hafen des EU-Mitglieds Italien liegt uns nicht nur geografisch näher als die Krisenregionen dieser Welt. Es schwingt mit: Das hätte auch hier passieren können. Viele Deutsche dürften Autobahnbrücken seit Dienstag mit einem mulmigen Gefühl passieren. Experten beruhigen zwar, unsere Brücken seien sicher. Das haben sie in Italien aber wohl auch gesagt.

Schnell sucht die Regierung in Rom Schuldige. Der private Brückenbetreiber habe versagt, dessen Vorstand müsse sofort zurücktreten. Zudem hindere die EU Italien daran, dringend benötigte Investitionen in die Infrastrukturen zu tätigen. Der Brückenbetreiber weist jede Schuld von sich, und auch die Anschuldigungen an die Europäische Union wirken fehl am Platze.

Eine Erklärung für das Unfassbare zu suchen, ist zutiefst menschlich. Wir wollen die Kontrolle wiedergewinnen, wollen ausschließen können, dass sich dieses Unglück wiederholt. Aber das gelingt nicht immer. Es bleibt Ohnmacht.

Ohnmächtiges Vertrauen

Vielleicht ging es Schwester Renate ähnlich. Sie ist Diakonisse im Mutterhaus Elbingerode, über das der MDR diese Woche eine sehenswerte Reportage sendete. Darin berichtet die 84-Jährige von den Tagen nach dem 2. Weltkrieg. Als sie in Berlin am Alexanderplatz den Bombenschutt wegräumte, fiel ihr ein dickes Buch in die Hände. „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht, sagt Jesus“, stand darin. „Da wusste ich, dass ich es mit einem lebendigen Gott zu tun habe“, sagt sie.

Trotz Leid auf Gott zu vertrauen, fällt schwer. Aber es ist auch das Eingeständnis, dass wir nicht alles in der Hand haben. Unsere Ohnmacht dem Allmächtigen zu klagen, ist vielleicht das Ehrlichste, was wir tun können.

Oh, dio.

Von: Nicolai Franz

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