Selbstjustiz führt in die Irre

Der Fernsehsender RTL zeigt einen Beitrag über einen Kinderschänder. Weil Unbekannte meinen, den Menschen zu kennen, prügeln sie ihn fast tot – und umgehen damit den Rechtsstaat. Ein Kommentar von Johannes Blöcher-Weil
Von PRO
Der beschauliche Bremer Stadtteil Lesum war Ort für einen krassen Vorfall von Selbstjustiz

Schon oft habe ich mich darüber geärgert, wie lange manche Gerichtsverfahren brauchen, um endgültig beschieden zu werden. Das geht auf die Nerven, gerade in den Fällen, in denen die Sachlage für den Laien eindeutig zu sein scheint. Umständlich und langwierig empfindet der Otto Normalverbraucher die Justiz – und vermutet Ungerechtigkeiten.

Mutmaßlich eindeutig war am Dienstag die Sachlage auch für einen wütenden Mob von Menschen in Bremen. Im beschaulichen, bürgerlichen Stadtteil Lesum ergriffen aufgebrachte Bürger selbst die Initiative: Sie hatten einen Beitrag im RTL-Mittagsjournal gesehen, der von einem Kinderschänder handelte. Weil sie sich sicher waren, dass es sich um einen 50-Jährigen aus besagtem Stadtteil handelte, schritten sie zur Tat.

„Voreilige Gerechtigkeitsfanatiker“

Sie suchten die Wohnung des Mannes auf, prügelten dort auf ihn ein und verletzten ihn lebensgefährlich. An sich schon schlimm genug. Brisanter wird die Lage dadurch, dass es sich nicht um den Täter handelte. Aus dem Polizeibericht geht hervor, dass der unbescholtene Bürger bisher kaum aufgefallen war. Außerdem wohnten dem Bericht zufolge in dem Mehrfamilienhaus keine Menschen mit pädophilen Neigungen. Die Süddeutsche Zeitung titulierte die Täter als „voreilige Gerechtigkeitsfanatiker“. Diese trübten die Vorstadt-Idylle gewaltig. Was noch viel schlimmer ist: Sie haben das Prinzip unseres Rechtsstaates nicht so ganz verstanden.

Die Presse verpflichtet sich im Pressekodex, die Persönlichkeit und das Privatleben von Menschen zu achten und auch bei Tätern nur in besonderen Fällen Informationen zu veröffentlichen, die ihn identifizieren. Der Fernsehsender betont, dass der Mann selbst zu keinem Zeitpunkt Gegenstand der Berichterstattung gewesen sei. Auch habe es keinerlei Hinweis auf den Ort oder eine vermeintliche Adresse des mutmaßlich Pädophilen gegeben. Darin seien lediglich Häuserfronten und ein Weg im Park zu sehen gewesen. Aber diese Anzeichen reichten den wütenden Menschen schon aus, um den Rechtsstaat zu unterwandern. Der – mittlerweile gesperrte – Beitrag des Senders soll der Staatsanwaltschaft als Beweismaterial dienen.

Auch der Staat nimmt Schaden

Jede noch so große Wut – selbst bei einem Kinderschänder – sollte davor bewahren, solch eine Lynchjustiz zu betreiben. Menschen haben nicht das Recht, Recht umzudeuten und die Demokratie und den Rechtsstaat zu umgehen. Selbst wenn es sich um den Täter gehandelt hätte, hätte dieser ein Recht auf die Behandlung durch eine unabhängige Justiz gehabt. Außerdem gilt in Deutschland noch immer das Prinzip der Unschuldsvermutung. Danach muss die Strafverfolgungsbehörde die Schuld des Täters beweisen – und nicht er seine Unschuld.

In diesem Fall haben nicht nur Menschen Menschen verwechselt, sondern auch den Rechtsstaat mit Anarchie. Es kann nicht sein, dass hier vermeintlich mangelnde Gerechtigkeit des Staates durch perverse Aktionen außer Kraft gesetzt werden. Positiv ist, dass sich das Opfer außer Lebensgefahr befindet. Aber nicht nur er hat körperlichen und seelischen Schaden genommen, sondern auch der Rechtsstaat, in dem die Polizei nun wegen eines versuchten Tötungsdeliktes ermitteln muss.

Von: Johannes Blöcher-Weil

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