Zuwendung auf Rechnung

In Deutschland fühlen sich viele Menschen einsam. Um der Isolation zu entkommen, bezahlen sie andere Menschen dafür, Zeit mit ihnen zu verbringen. pro hat Ute Scheuren einen Tag lang begleitet. Sie kümmert sich um einsame Menschen.
Von Johannes Blöcher-Weil
Viele Senioren nehmen professionelle Hilfe in Anspruch, damit sie überhaupt jemanden haben, mit dem sie ihre Zeit verbringen können

Seit zwei Jahren arbeitet Ute Scheuren in ihrem Traumjob: Sie ist Lebenshelferin. Zuvor war sie als Heilerziehungspflegerin tätig, fest angestellt mit eng getakteten Arbeitszeiten. „Durch private Einschnitte habe ich 2016 eine neue Herausforderung gesucht“, erzählt sie.

Fündig geworden ist sie beim Berliner Unternehmen „SeniorenLebenshilfe“. In Bochum und Umgebung besucht sie seither ältere Menschen und verbringt Zeit mit ihnen. Bei einigen Klienten kümmert sie sich auch um deren Haushalt und macht Einkäufe oder spielt mit ihnen. Für viele ihrer Klienten ist sie die einzige Bezugsperson im Leben, weil diese einsam sind. Sie bezahlen Geld dafür, dass sich jemand um sie kümmert. Scheuren lebt von der Einsamkeit und Hilfsbedürftigkeit der Senioren.

Sie arbeitet sechs Tage in der Woche – einen davon nur vormittags. „Wenn ich samstags mit meiner Kundin frühstücke, ist das für mich auch schön und nicht nur Arbeit.“ Ihre Firma unterstützt Scheuren bei der Verwaltung und lässt ihr im Tagesgeschäft zugleich große Spielräume bei ihrem Tun.

Als Freundin ist sie ihm alles wert

Heute kümmert sie sich im Essener Stadtteil Unterruhr um den 86-jährigen Johannes Neuhaus. „Frau Scheuren war ein absoluter Glücksgriff“, sagt der Senior mit rheinischem Dialekt. Neuhaus ist eine Ausnahme unter Scheurens Klientel, denn eigentlich ist er kein einsamer Mensch. Der frühere Besitzer eines Möbelhauses ist noch gut im Stadtteil vernetzt. Der Witwer hat Kinder und auch im Alter nochmal eine neue Lebensgefährtin gefunden, die nicht weit von ihm entfernt wohnt. Die ist dankbar für Ute Scheuren, sei sie doch für ihren Freund „alles wert“. Neuhaus’ Lebensgefährtin kümmert sich gelegentlich selbst ehrenamtlich um alte Menschen im Heim. Beim Abschied höre sie oft die Worte: „Bleib doch noch ein Stündchen.“ Solche Sätze sprächen Bände.

Neuhaus weiß sich bei Scheuren in guten Händen, „weil sie Dinge erledigt. Oft muss ich sie gar nicht darum bitten.“ Als die Lebenshelferin die Gardinen gewaschen hatte, „brauchte ich keine Lampe mehr. Es war auch so hell genug“, schmunzelt er.

Der Rentner hat eine Krebserkrankung überstanden und vor vier Jahren eine neue Herzklappe bekommen. Nach einer Entzündung musste er erneut operiert werden. 2017 stürzte er dann nachts im Badezimmer. Eine Vollzeit-Betreuung lehnte der Witwer aber ab. Er wollte für einen Platz im Pflegeheim nicht sein Eigenheim verlassen. Menschen aus seinem Umfeld haben ihn auf das Angebot der „SeniorenLebenshilfe“ aufmerksam gemacht.

Warteliste mit zehn Personen

Das Interesse an den Diensten der Lebenshelferin ist groß: Mittlerweile stehen zehn Personen auf ihrer Warteliste, erzählt sie, bevor sie in der Küche verschwindet und für Neuhaus Frikadellen zubereitet. „Ich könnte natürlich alles enger takten und mehr Geld verdienen“, sagt sie. Aber sie möchte sich auch Zeit für den Einzelnen nehmen und nicht von einem Kunden zum nächsten hetzen.

Neuhaus’ Frau ist vor zwölf Jahren verstorben. Wirklich einsam fühlt er sich nicht, aber er braucht Gesellschaft. An guten Tagen besucht er das Möbelgeschäft an der Hauptstraße. „Ich prüfe die Kontoauszüge und schaue, ob die alles richtig machen“, lächelt er verschmitzt.

Gesellschaftliche Veränderungen bewertet er kritisch: „Früher in den Großfamilien war immer jemand für einen da“, sagt er. Heute lebe jede Familie für sich. Die eigenen Kinder hätten oft keine Zeit mehr für ihre Eltern. „Mein Sohn bringt mir Sachen vom Einkaufen mit, anstatt mich mitzunehmen. Er sagt immer, dass ich so lange brauche.“ Neuhaus findet, dass die Alten durch das gesellschaftliche Raster fallen. „Der Mensch ist nicht dafür geschaffen, einsam zu sein. Er leidet kolossal darunter.“ Häufig habe er erlebt, dass Menschen nur auf ihre Karriere bedacht seien: „Im Alter sind dann Freunde und soziale Kontakte, die sie hätten haben können, gar nicht vorhanden.“ Den heimatlichen Gottesdienst besucht Neuhaus nicht mehr, weil er akustisch kaum etwas versteht. Deswegen schaut er sich den ZDF-Fernsehgottesdienst an.

Die Kundenbesuche sind für Ute Scheuren nicht nur Arbeit Foto: pro/ Dr. Johannes Weil
Die Kundenbesuche sind für Ute Scheuren nicht nur Arbeit

Auch für den zweiten Kunden des Tages ist Ute Scheuren eine wertvolle Begleiterin. Mit seinen 95 Jahren ist Ludwig Werner der zweitälteste Kunde. Er kocht noch selbst und lebt nach dem Tod seiner Frau 2006 alleine in einem Mietshaus im Bochumer Stadtteil Wattenscheid. Trotzdem ist auch er kein klassisch Einsamer. Seine Nachbarn kennt er fast alle, was „heutzutage ja nicht mehr selbstverständlich ist“, sagt er.

Auf die „SeniorenLebenshilfe“ wurde sein Sohn durch eine Zeitungsanzeige aufmerksam. Scheuren beginnt ihren Dienst mit einem kleinen gemeinsamen Ritual. Sie trinken zusammen Tee und essen Kekse. Werner ist noch mobil: Er begleitet seine Kinder in den Urlaub, besitzt ein Handy und trifft beim Einkaufen im Supermarkt immer Menschen, die er kennt. Lediglich die Augen bereiten ihm Probleme.

Werner erzählt von seinem Leben, über den Krieg, seine Zeit als Soldat und über die täglichen Nachrichten aus aller Welt. Er redet auch übers Sterben. Scheuren hört ihm zu.

Ministerin für die Einsamkeit

„Herr Werner und Herr Neuhaus sind Ausnahmen“, erzählt Scheuren. Viele ihrer anderen Klienten sitzen nur zu Hause, haben keine Bezugsperson außer ihr. Diese Kunden bezahlen vor allem dafür, dass Scheuren ihnen Gesellschaft leistet. „Da überlege ich schon, wie es einmal bei mir wird“, sagt sie. Deswegen versucht die kinderlose Frau, eigene Freundschaften und soziale Netzwerke zu pflegen und zu erhalten.

Mittlerweile wird die Einsamkeit auch zum politischen Thema. Großbritanniens Regierungschefin Theresa May hat ihre Ministerin Tracey Crouch damit betraut, sich für die Belange der Einsamen einzusetzen. May begründete diesen Schritt mit der „traurigen Realität des modernen Lebens“. Viele Menschen hätten niemanden, „mit dem sie reden oder ihre Gedanken und Erfahrungen teilen können“. Auch die deutsche Politik möchte das Thema enttabuisieren. Der SPD-Politiker Karl Lauterbach betont den medizinischen Aspekt. „Einsamkeit in der Lebensphase über 60 erhöht die Sterblichkeit so sehr wie starkes Rauchen“, sagte der Gesundheitsexperte kürzlich in einem Interview der Bild-Zeitung. Zudem erkrankten diese Menschen viel häufiger an Demenz, meint Lauterbach.

Aktuelle Zahlen des Marktforschungsinstituts Splendid Research belegen, dass sich 11,7 Prozent der deutschen Bevölkerung ständig oder häufig einsam fühlen, bei weiteren 32 Prozent ist dies zumindest manchmal der Fall. Maike Luhmann, Pschyologie-Professorin an der Universität Bochum, hat erhoben, dass sich jeder fünfte Deutsche über 85 einsam fühlt. Bei den 45- bis 65-Jährigen ist es jeder Siebte. Ausgenommen ist keine Altersgruppe.

Menschliches Leid tut weh

Ute Scheuren spricht mit ihren Kunden über die Politik, über Gott und die Welt. Vieles, was sie hört, ist hart, und das menschliche Leid tut ihr weh. Viele erzählen ihr, dass sie keine Energie mehr für das Leben haben. „Jeder Tag läuft bei ihnen gleich ab. Oft wissen sie gar nicht genau, welcher Tag heute ist“, erzählt sie von Kunden, die – anders als Werner und Neuhaus – ständig alleine sind.

In solchen Situationen ist die Lebensbegleiterin als Zuhörerin und Ratgeberin gefragt. Dabei trifft sie zufriedene Menschen, aber noch mehr Verzweiflung. Gegenüber den Kunden rechnet Ute Scheuren ihre Leistung stundenweise ab. Wenn es bei ihnen finanziell eng wird, bezahlt das Sozialamt. Für viele ihrer Kunden ist ihr Dienst unbezahlbar – und das gleich im doppelten Sinn.

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe 2/2018 des Christlichen Medienmagazins pro. Bestellen Sie pro kostenlos und unverbindlich unter Telefon 06441-915-151, per E-Mail an info@kep.de oder online.

Von: Johannes Weil/Sandro Serafin

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